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Von Sappho (Hannah Arendt, Helene Stöcker) bis zur Leibphilosophie heute

von Dr. Annegret Stopczyk

 Zur Ausstellung: Warum sie mit Sappho beginnt  um 600 vor unserer Zeit

 -          UM 500 vuZ begann jenes abendländische Denken das sich in sich gegenseitig ausschließenden Polsetzungen des entweder oder bewegt: die berühmten Dualismen: Körper/Geist, Theorie/Praxis, Außen/Innen, Subjekt/Objekt, Mann/Frau, Denken/Fühlen.

-          Beispiel Demokrit: Die reale mit den fünf Sinnen wahrnehmbare Welt wird auf letztlich kleinste feste Körper reduziert, den Atomen. Alles andere, was wir wahrnehmen, gilt nicht als objektive, und damit ist gemeint "richtige",  Wahrnehmung. Die falsche Wahrnehmung wäre, wenn wir darüber reden würden, was wir als sinnliche leibhaftige Menschen stimmungsmäßig fühlen, spüren, erleben. Den fröhlichen Freund, die schöne Landschaft, den heiteren Morgen, die dumpfe Kälte einer U-Bahnstation morgens um 5.00 Uhr, das angenehme Gespräch, die glückliche Freundin, das Grauen angesichts schrecklicher Situationen. Diese Wahrnehmungen gelten als subjektive Privatsache, seit von Demokrit her das atomistische Wahrnehmen der Dinge da draußen in der Welt zur Hauptsache der Wahrnehmung des Menschen erklärt wurde. Dieser sogenannte "objektive Begriff der Erkenntnis" dominiert bis heute immer noch den Wissenschaftsbegriff und auch den Vernunftbegriff. Dadurch haben wir zwar hervorragende Kenntnisse in den Naturwissenschaften erlangt, aber das, was Subjekt und Objekt verbindet, was innen und außen vermischt, Körper und Geist gleichzeitig erleben läßt, genauso wie Denken und Fühlen, Außen und Innen, also die menschliche Existenzweise als leibliches Wesen, ist damit ein Mysterium geworden. Die Mitte zwischen der eigenen innen Welt und der äußerlich wahrnehmbaren Welt ist unser Erleben und erfahren als die jeweilig individuell befähigten Menschen, die wir sind.

-          Es ist also mit einem Dualismus, der die menschliche Existenzweise in zwei Welten trennt, wobei die eine die höherwertige sei und die andere die zu vernachlässigende, eine Reduzierung menschlicher Intelligenz auf die Wahrnehmung der äußeren Welt passiert, während unser leibliches Dasein als mit Tieren gleichgesetzt angesehen wird. Das höherwertige ist das, was die Außenwelt erklären und beherrschen kann. Dieser Impuls, das Außen zu beherrschen entstammt philosophiegeschichtlich gesehen einer griechischen antiken Kriegergesellschaft. Der Eroberungsimpuls wurde zur Denkmethode.

-          Die Höchste Instanz im Menschen wurde ebenfalls als eine erfunden, die herrschen kann. Herrschen über alles, was von innen kommt, die Begierden, Instinkte, Triebe, Sehnsüchte -. Diese Instanz wurde Vernunft genannt, oder das Selbst oder das autonome Ich, das alle meine Regungen zu regulieren imstande sei. Der Satz von Sokrates, der Körper sei das Gefängnis der Seele ließ die Idee des ethisch guten Menschen sozusagen ständig über den eigenen Körper hinauswachsen. Der Körper gehörte nicht dazu. Es war der Körper des Kriegers, der ohne Angst für die große Idee der Polis geopfert werden könnte. Wer nicht an den sinnlichen Erfahrungen hängt, der kann sich besser für religiöse und politische Machtideen aufopfern (Selbstmordattentäter) oder das geht bis zu den Aufopferungstheorien vieler Philosophen vor dem ersten Weltkrieg. Das heißt, diese Vorstellung, ein guter Mensch dadurch zu sein, daß man sich für eine große Idee leibhaftig aufopfert, um in freier Entscheidung das individuelle Leben in die erfolgreiche Durchsetzung eines Gemeinschaftswillens einzugehen, oder ins Himmelreich oder in den Vorstand eines Weltunternehmens, hat meines Erachtens etwas mit dieser Kriegeridentität zu tun, die damals vor 2500 Jahren philosophisch entstand, als es darum ging, die Hegemonie Griechenlands zu erkämpfen. Es ist eine Erziehungsidee, die speziell von den Philosophen nur für Männer erdacht wurde, in heftiger Abgrenzung zu Frauen, die in Athen wie bei den Taliban in Afghanistan das Haus nicht verlassen durften.

-          Aber nun zu Sappho:

-          Sappho lebte 100 Jahre vor Demokrit, vor Sokrates, 150 Jahre vor Platon und 200 Jahre vor Aristoteles. Sie müßte nach der altphilologischen Lehre all das nicht haben, was später den Mann mit seiner Vernunft ausmacht. Kein Ich, was sich autonom sogar gegen die Gesellschaft definieren könnte, kein Gemeinschaft bildendes Selbstbewußtsein als Mensch jenseits eines Götter- oder Gottesglaubens.

-          Aber was finden wir in den Fragmenten von Sappho? 

Einer sagt, Reiter sind schön, ein anderer findet große Kriegsschiffe oder marschierendes Fußvolk schön. Ich aber nenne schön, wonach einer sich sehnt. 

Sie definierte sich als eine, die die Welt da draußen definiert. Die aber zugleich ihre Welt innen wahrnimmt und diese als Maßstab für das Außen setzt. Anders als Demokrit wird das gespürte Geschehen, die Sehnsucht, als Regulator der Weltinterpretation erkannt. (Unschärferelation des Heisenberg) Sie beobachtet sich als Definierende und Wollende, und die Welt im kantischen Sinne als unter Bedingungen wahrgenommene.

Sie ist mehr "autonomes Ich" als Sokrates, der nach Platon niemals behauptet hat, daß er selber denke. Sondern ein Gott, sein Daimonion, denke in ihm. Sappho sagt: Ich denke und nimmt ihren Denkprozeß wahr. 

 Weiß nicht, was ich zu tun; denn entzweit ist das Denken mir.             II, XXVII

 Sie war die erste Ethikerin des Abendlandes:

 Und ich sehn mich und ich begehr ....                                                    I, XVI

 ....bin keine, die wutentbrannt heimzahlt, wenn sie zürnt,

nein, eher still halt ich mein Herz ....                                                 Ungesichert LX

 Macht sich in deinem Herzen der Zorn breit,

nimm sie in acht, die eifernde Zunge.

 ( Über Männer?)

 Der schöne Mann ist schön, solange ich ihn sehe.

Der gute Mann ist auch dann schön, wenn ich ihn nicht sehe.              II, XXVI

 

Wenn du ersehnst, was ehrenhaft oder gut,

und deine Zunge nicht an das Schlechte rührt -

die Scham wär nicht in deinen Augen,

nein, würdest aussprechen, was dir recht ist.                             Ungesichert LXIX

  

(Leben als Frau in ihrer Akademie)

.....tot sein, ehrlich, ich wünsch es mir;

vor mir weinte sie, während sie Abschied nahm,

viele Tränen und sagte. :

„Ach, wie Schlimmes erfahren wir,

Sappho, ja, wider Willen verlaß ich dich.“

Aber ich gab zur Antwort ihr:

„Lebe wohl und geh fort, an mich

denkend; weißt doch, wie sehr wir dir zugetan.

....und auf Betten, die weich bereit,

zarte.......hast gestillt deine Sehnsucht .....                                           V, XL

  

Wenn gestorben du liegst; nimmermehr wird jemand gedenken dein

Noch sich sehnen dereinst; ....Nein, unsichtbar auch wirst du in Hades

Haus irren unter dem Traum, unter dem Tod  -   eine Entflogene.         III, XXXI

 

Sich erinnern wird, sag ich, manch einer noch an uns.             Ungesichert LXXV

 (Sappho  aus: Strophen und Verse, Übersetzt und herausgegeben von Joachim Schickel, Frankfurt am Main 1978)  

Wenn die Philosophie und das abendländische Denken sich nicht von der antiken  Stilisierung der Männer zum guten Soldaten oder sippenunabhängigen Bürger mehr anleiten ließe, und ihre Intelligenz erweitern würde, dann müßten jene anderen Denkweisen neu ergründet werden, die vor und jenseits dieser gängigen Dualismen erdacht wurden und werden.

An dieser Stelle spielen die Philosophinnen eine große Rolle, allen voran Sappho.

Die Selbststilisierung der antiken Männlichkeit findet sich bis in die heute herrschende zweiwertige Logik des Denkens. Wie damals Frauen alles das zugeschrieben wurde, womit der Mann sich nicht mehr identifizieren dürfe, eben fühlen, statt denken, untertan sein statt regieren, Leibsein statt Geistsein,  tierischer Gebärkörper sein satt produktiver Ideenspender sein, im Haus bleiben, anstatt in die Welt ziehen, passiv sein anstatt aktiv, so finden wir auch heute noch diese Zuschreibungen und Bemühungen vieler Männer, ihre antike Männlichkeit gegen diese zur "Weiblichkeit" abgespaltenen Seinsweisen zu beweisen.

Dadurch aber, daß sie sich ihr eigenes Sein aufgeteilt in entweder rationalem Geist oder nur tierischem Körper vorstellen, können sie mit den Zwischendimensionen ihres Erlebens nicht viel anfangen und sind für solche, die gern manipulieren willkommene Opfer.

Den Frauen wird seit der Antike die Gefühlsseite zuerst als Beschränktheit des Erkennens zugewiesen, aber inzwischen immerhin, auch durch die neuere Gehirnforschung, wissen Männer, daß es faktisch diese dualistische getrennte Aktivität Denken oder Fühlen während wir es tun in unserer Gehirntätigkeit  gar nicht gibt. Fühlen und Denken geschieht gleichzeitig, während wir etwas tun, nur merken es die meisten Männer weniger als viele Frauen.

Das heißt: die bewußt wahrnehmbare  hohe Eigenbeobachtungsgabe vieler Frauen, auch Introspektion genannt, ist komplexer und eigentlich auch intelligenter, als das EntwederoderModell des antiken Denkens erlaubt.

Das sogenannte archaische Denken einer Sappho ist intelligenter als das demokritische Denken des Abendlandes.

Und wenn wir davon ausgehen, daß wir, und ich meine damit Männer und Frauen, heute langsam begreifen, welche Art von Intelligenz uns fehlt und wohin wir uns entwickeln müßten, um als Menschheit  friedlich und gesund auf Erden weiterleben zu können, dann müssen wir unser eigenes reales Erleben als leibliche Lebewesen umfassender erforschen.

(Leibphilosophie schließt sich hier an.) 

In dieser Ausstellung haben wir 25 Philosophinnen von der Antike bis heute  vorgestellt, aber es gibt etwa 280 die wir vorstellen könnten. (Marit Rullmann)

Sie vertreten verschiedene Richtungen des Philosophierens, aber einige haben sich eben ganau an diesen antiken hierarchischen Dualismen gestossen, die sie nicht mehr mitdenken wollten und wollen.

Ich möchte Ihnen einige Beispiele geben.

Ihnen allen bekannt wird Hannah Arendt sein: Sie brach mit einem großen antiken Dualismus, obwohl sie sich als Aristotelikerin verstand. Und ihr Bruch ist folgenreich auch für eine Philosophie des integrierten Leibes.

Sokrates: Philosophieren heißt sterben lernen   (erläutern)

Ahrendt: Die Philosophie kann nicht mit dem Ende anfangen, mit dem sterben, dem Tod. Wenn sie eine Philosophie für das Leben sein will, muß sie mit der Geburt beginnen, mit dem Gebären.

Philosophie der Geburtlichkeit integriert das leibliche Leben von Geburt bis zum Tod.

Menschen werden nicht wie Tiere geworfen, gelaicht oder ausgebrütet, sie schlüpfen nicht  sie fallen nicht vom Himmel und wachsen nicht aus einem Samen sie werden von einer Menschenfrau mit ihrem Leibe geboren.

Gebären ist als menschliches kreatives Tun und vom tierischen zu unterscheiden.

Nicht nur, daß hier die gebärende Frau zum ersten Mal in der Philosophie als Einheit zwischen Vernunft und Körper aufgefaßt wird, sondern ein Mensch wird jemand kraft seiner Geburt und nicht, wie vorher viele Philosophen behaupteten, durch die richtige Erziehung und Kultur.

Ein Mensch ist ab seiner Geburt ein Mensch und das heißt, ein individuelles Wesen mit alles Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Menschen eigen sind, um in der Welt der Menschen etwas zu bedeuten. Sie erklärt: "Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen."

Die Hinwendung zur leibhaftigen Welt und zur menschlichen Erfahrungsmöglichkeit zwischen sich und dem Außen findet sich dann in ihrer Philosophie des Handelns wieder, in ihrem Werk "Vita Activa". Wir sind als Geborene immer auch Anfängerinnen und Anfänger, aber wie machen wir etwas und wann handeln wir mit unseren besten Möglichkeiten und Fähigkeiten? Hannah Arendt befaßt sich genau mit der Zwischensphäre zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Körper, dann, wenn wir etwas tun, etwas erleben und initiieren. Wenn etwas in die Welt kommt, was ohne uns nicht in der Welt wäre.

Es interessiert sie die Verbindung zwischen dem Ich und der Welt, eben die lebendige menschliche Welt in der Um- und Mitwelt.

Eine ähnliche Abwendung von einem sehr rational abgespalteten Denken über Welt und Mensch vollzog auch Agnes Heller, die zunächst Schülerin von dem kommunistischen Philosophen Georg Lukacz war. Seinem streng abgegrenzten Denken der rational richtigen Ideen großer Weltzusammenhänge gegen die angeblich irrationalen Gefühls- und Triebanteile des menschlichen Lebens, also auch des Körpererlebens, setzte sie eine Theorie der Gefühle und des Alltagslebens entgegen. Sie schreibt: "Dem Alltagsleben als einem selbständigen Bereich ist von der philosophischen Tradition der letzten zweieinhalb Jahrtausende kaum Aufmerksamkeit bezeugt worden." Menschen werden zwar als Menschen mit allem Möglichkeiten und Fähigkeiten geboren, das ist genetisch festgeschrieben. Aber ohne die anderen Menschen kann ein geborener Mensch über sich selber und die eigenen Gefühle und Erfahrungen kein Bewußtsein entwickeln. Sie nennt folgendes Beispiel: Ein Mensch unter Pferden aufgewachsen wird die Pferde nachahmen so gut es eben geht und zum Pferd werden wollen. Er oder sie wird kaum einem Menschen mehr ähnlich sein und kann später auch wenig dazu umlernen. Ein Pferd bleibt immer ein Pferd, auch allein unter Menschen.

Wörtlich: "Unser Organismus ist eine stumme gattungsmäßige Entität". Er ist gleichzeitig ein individuelles System und ein gesellschaftliches System. Hier einen unaufhebbaren Dualismus zu konstruieren zugunsten des Menschen als rein gesellschaftliches Wesen, wie es ihrer Auffassung nach viele Philosophen mit Marx tun, bedeutet, das spezifisch Menschliche zu verkennen. Gefühle sind daher für sie nichts Tierisches oder Irrationales, sondern sie haben Orientierungskraft auch im Denken.

Wie dann im alltäglichen Leben diese ganzheitlichere Zwischendimension des Lebens beschrieben werden kann, darum geht es in ihrem Werk. Nicht der große heroische revolutionäre Mann ist ihr Bild vom Menschen, sondern die vielen einzelnen Menschen, die ihr Leben alltäglich zu gestalten haben.

 

Die Philosophin Helene Stöcker entwickelte um 1900 in Deutschland eine sogenannte "Neue Ethik", die zur Grundlage in der Theoriebildung der Sexualreformbewegung wurde. Sie ging direkt auf die dualistische und den Körper als Sünde dikriminierende alte Moral der letzten zweitausend Jahre los und hinterfragte in der Philosophie und auch in der Literatur und Politik die Motive, die dazu geführt haben könnten, daß alles, was mit dem Körper zusammen hängt, als moralisch minderwertig aufgefaßt wird. Und da die Frauen bei den Philosophen von Anfang an als minderwertig galten, weil sie angeblich keine Vernunftfähigkeit hätten und nur Körperexistenz  seien, fragte sie auch, was dieses Denken möglicherweise mit einer speziellen Schwierigkeit der Männer zu tun haben könnte, ihren eigenen Körper als tierisch zu erfahren, sobald sie Frauen sehen. Wer sich nicht um die innere Kultivierung seines Erlebens zu kümmern gelernt hat, so wie viele Frauen, der mag sich überwältigt fühlen von seinen Sexualtrieben. Wer nicht mehr denken könne, nur weil eine Frau im Hörsaal sitzt, gehöre nicht an eine Universität. So jemand sei als Mensch ungebildet, unkultiviert. Daß diese Unkultiviertheit zu philosophischen und moralischen Theorien seit der Antike stilisiert würden, hat sie nicht hinnehmen wollen. Stattdessen entwickelte sie anknüpfend an die Freundschaftsphilosophien und Naturphilosophien der Frühromantik eine "Neue Ethik der Liebe und des Menschenschutzes". Während des ersten Weltkrieges realisierte sie, daß der Körper dem einzelnen Menschen nicht gehört. Staatsregierende können das besitzrecht des Mannes an seinem Körper außer Kraft setzen und ihn als Soldat, oder Kanonenfutter benutzen. Frauen müssen gebären oder dürfen nicht gebären, je nachdem, wie die Regierungsmächte das für richtig halten. Solange unser Leib nicht letztlich unser individuelles Eigentum ist, seien wir keine freien Menschen. Auf diesem Hintergund entstand eine politische Philosophie des Menschenschutzes und des Radikalpazifismus. Sie prägte auch den Begriff des "Kriegsdienstverweigerers" und den der "Männerbewegung".

Sie wird heutzutage meistens als Frauenrechtlerin angeführt, aber das war sie nur nebenher, als Ergebnis ihrer philosophischen und politischen Arbeit, die sie immer auch mit Männern zusammen durch führte. Sie verstand sich gar wie viele Denkerinnen damals als Nietzscheanerin, und konzipierte nach seiner Idee eine Neue Ethik der Umwertung alter Moral. Es ging dabei nicht um Abwertung und Überwertung, sondern sie sah sozusagen den "richtigen Kern" auch im Falschen und werte den nur um, damit er frei von den Hemmnissen einer leibfeindlichen Kultur und Moral zu Tage treten könne. Diese sogenannte "dialektische Methode" der Kritik beherrschte sie meisterhaft. Dadurch gelang es ihr, sich nicht immer wieder zum Gegensatz der herrschenden Gesellschaft zu definieren, sondern sie fand Wege, in ihrer Zeit sehr erfolgreich zu sein, was nur den wenigsten Philosophinnen beschieden war.

Auch hier sehen sie, wo seit Sappho Philosophinnen immer wieder versuchen, etwas anderes zu denken, als das, was sie in der von eroberungsmotivierten Männern in der Philosophie formuliert vorfinden. Dabei geht es den von mir erwähnten Philosophinnen nicht darum, sich lediglich von Männern abzugrenzen und eine eigene Frauenwelt zu definieren, die sie dann, wie vorher die Männer als universal gültig deklarieren, sondern sie wollen auch die Männer befreien, und manche Männer wurden auch ihre Anhänger.

 Nun möchte ich zum Schuß meine eigene Philosophie skizzieren, die sehr stark von Sappho, und den anderen Philosophinnen her inspiriert ist. Aber auch Philosophen wie Parmenides, Kant, Nietzsche und Wittgenstein spielen dabei eine Rolle.

Das Schöne an der Philosophie ist, daß sie immer europäisch oder interkulturell war und in gewisser Weise unhistorisch. Die Grundfragen nach dem, was menschliches Leben ausmacht und wie wir uns als Menschen entwickeln sollten, werden in jeder Zeit und Kultur wieder neu gestellt. Dabei sind die Antworten, die andere Philosophierende  gefunden haben zwar unterschiedlich aber nicht überholt, sondern sie passen je nach Lebenssituation. Wir sind es gewohnt zu glauben, das Neueste sei das Beste, weil wir im Industrie- und elektronischen Zeitalter gelernt haben, daß die Computertechnik von vor fünf Jahren keine Existenzberechtigung mehr hat. Aber im Bereich unserer Erlebenswelt zwischen all den ständig neuen Dingen und Informationen werden wir nicht durch immer wieder neue Erfindungen orientiert. In dieser Zwischendimension der eigenleiblichen Erfahrungen und der Welt um uns herum sind wir heute sogar unkultivierter als vor zweihundert Jahren.

Das ist zwar zunächst nur eine Behauptung, aber wer ältere Literatur gern liest, wird das auch bemerkt haben.

In unserer von technischen Attraktionen gestalteten schönen westlichen Welt  können wir zwar immer gesünder älter werden, aber wir sind eben nicht nur eine möglichst schöne und perfekte Körpermaschine, sondern auch diejenige, oder derjenige, der etwas von diesem Leben spürt oder auch nicht mehr spürt. Nicht nur pures Erleben als Action, sondern spürendes, genießendes, auch leidendes und lernendes Erleben ist dabei wirksam. Es ist das, was ich "eigenleibliches Erleben" nenne, leiblich insofern, als wir es sind als spürender Körper sozusagen. Nicht nur als dreidimensionaler funktionierender Körper, das kann auch schön sein, im Sport oder als ästhetischer Anblick. Das Spürende aber geht über die Körpergrenzen hinaus oder hinein. Es ist das, wodurch wir merken, daß wir lieben oder hassen,  sich sehnen oder Lebenssinn empfinden. In meinem Buch "Sophias Leib" nenne ich es auch "Leibsinn".

Die Philosophen Adorno und Horkheimer meinten angesichts der Naziverbrechen, daß wir ein für alle mal keine Chance mehr haben, diesen Sinn zu entwickeln. Sie schreiben "Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird."

Im Faschismus sei die Selbsterniedrigung des Menschen zum Corpus, zum Rohmaterial geschehen. So wie es nach Auschwitz keine Gedichte mehr geben kann, so auch keinen spürenden Leib mehr. Denn im grausamen Handeln gegen andere Menschen  geht dem Menschen sein Mitspüren, sein Miterleben und so auch überhaupt sein Erleben jenseits seiner Körperfunktionen abhanden.

 

Diese Stellen in der Dialektik der Aufklärung haben mich immer wieder herausgefordert. Sollten wir wirklich wegen der grausamen Taten auf ewig verdammt dazu sein, ohne eigenes Sinnempfinden in dieser Welt zu existieren und Grausamheiten zu vermindern?

Als die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mir zeigte, daß unser leibliches gesundes Leben keine Selbstverständlichkeit ist, als meine Freundin Christel Neusüß, eine sehr rationale kluge Professorin der Ökonomie, ein halbes Jahr lang in meiner Begleitung starb und danach suchte, was das Ganze denn nun gewesen sein sollte, in dieser Zeit begann ich mein Buch "Sophias Leib" zu schreiben, und eine eigene Philosophie zu begründen, die ich Leibphilosophie nannte.

Sie war eine schöne, erfolgreiche, sehr gut funktionierende Frau mit Liebhabern und wunderbaren Freundinnen, in einem Leben, das irgendwie gut lief. Und dann die schwere Todeskrankheit und niemand wußte weiter. Krankheiten werfen uns  nach innen. Aufeinmal ging es darum, die leibliche feinere Dimension kennenzulernen und zu beachten. Und sie zeigte in ihrer Sterbenszeit großes Talent dafür. Jetzt hätte sie Dichterin werden können. Sie entwickelte eine neue Verbindung zur Welt und zu sich selber. Und wir dachten, eigentlich müßten die Menschen das alles früher erlernen, nicht erst, wenn es zu spät ist, wenn eine Krankheit alle Aufmerksamkeit erzwingt.

Wir fragten, was eigentlich ein weises Leben ist und was Weisheit ist, Sophia?

Wir suchten an ihrem Sterbebett nach weiblichen Spuren der Weisheit und mir wurde klar, Weisheitswissen hat mit Lebenserfahrung zu tun, nicht nur mit Informationswissen. Aber Lebenserfahrung zu machen ist eine eigene Kunst, es ist ein inneres Tun während des Erlebens.  Wir leben vielleicht viel zu schnell dahin von einer Aktion zur nächsten, aber erfahren wir das Leben im bewußten Sinne?

Mit diesem Fragehintergrund habe ich eine europäische Weisheitstradition neu gefunden und formuliert, wobei unser Leib dabei integriert ist. Denn ohne unseren Leib, als reiner Geist, können wir keine Lebenserfahrung machen.

Ich nahm mir vor, eine Philosophie zu erfinden, die sich direkt aus lebenssituationen speist, die nicht mehr darauf aus ist, konkrete lebenssituationen zu abstrahieren, als würde unser Denken aus reinen Prinzipien und der reinen Logik entstehen.

Ich bin dabei auch auf Philosophien anderer Kulturen gestossen und habe dabei erfahren, daß z.B. in asiatischen Körperübungen soetwas wie ein Leibsinn gebildet wird, ein Sinn, der spüren kann, wann z.B. die Lebenskraft Chi strömt, wann nicht und mit welchen Bewegungen dieser Strom beeinflußbar wird. Es sind innere Fähigkeiten des bewußten Erfahrens, die aber  nicht nur Innerleibliches erspüren, sondern auch Außerkörperliches. Wenn Sie sich mal überlegen, was für ein exaktes fast kilometergroßes Leib-Raumgefühl eine Fußballerin entwickeln muß, um einen Ball haargenau über das ganze Feld in ein Tor zu schießen, dann ist es so, als sei sie leiblich mit ihrem Fuß und dem Tor verbunden, egal, wie weit es auch entfernt ist. Dasselbe beim Golf spielen. Das sind nur kleine Beispiele. Ich habe Übungen entwickelt, in denen die Dimensionen zwischen Denken und körperlichem Spüren erfahrbarer werden, die kann ich aber jetzt nicht mit Ihnen machen, dazu brauchte es mehr Zeit. 

Bevor wir in die Diskussion gehen, möchte ich Ihnen noch etwas zu meinen Büchern sagen und dem Material, das dort auf dem Tisch liegt und zu kaufen ist.