Die Macht des Denkens
- Die
Macht der Denker
Leibphilosophie
aus patriarchatskritischer Sicht
© Dr. Annegret Stopczyk – Pfundstein
Vortrag auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie 2006 in Hamburg erste Seite
(Nachtrag April 2008: Dieser Vortrag ist nicht in das Tagungsband der Gesellschaft zur Veröffentlichung aufgenommen worden. Es sei kein roter Faden zu finden und müsse wissenschaftlich völlig überarbeitet werden, was aber zu aufwendig sei. Diese Begründung finde ich fragwürdig, vor allem, weil nach dem Vortrag mir einige - auch aus dem Vorstand - sagten, daß es der beste und interessanteste Vortrag der Tagung gewesen sei.)
Zusammenfassung: Leibphilosophie und Neue Phänomenologie werden unterschieden. Das Thema von der Macht des Denkens und der Denker wird im Vergleich zwischen Philosophen und Philosophinnen untersucht . Dabei wird der Machtbegriff auch provokativ auf seinen Nutzen hin befragt.
Über die Macht des Denkens werde ich Ihnen am Beispiel von Denkerfahrungen bei Philosophinnen einige Aspekte vortragen, um dann über zu gehen zu der Frage, wie die Macht der Denker in diesem Zusammenhang auftaucht.
Dabei wird auch deutlich werden, inwieweit mein leibphilosophischer Ansatz sich von der Neuen Phänomenologie unterscheidet.
Zunächst
aber grenze ich den Begriff „Macht“ leibphilosophisch ein.
Meine
Leibphilosophie, an der ich seit 1986 veröffentliche und forsche und 1998 und
2003 einige Ergebnisse daraus im Buch „Sophias Leib -der Körper als Quelle
der Weisheit“, veröffentlicht habe, beinhaltet von vorn herein eine
patriarchatskritischen Anteil. Insofern
ist Herrschaftskritik mit der Frage nach eigenleiblichem Erleben für mich
unmittelbar verbunden. Diese herrschaftskritische Seite fehlt mir im Ansatz der
Neuen Phänomenologie, die eher deskriptiv gefasst ist, eben nur als Phänomenologie.
In der Leibphilosophie geht es auch um die Sollensseite unserer eigenleiblichen
Erfahrungen. Wir prägen mit unseren Sollensvorstellungen über uns selbst auch
unser Spürvermögen und unsere Empfindungen. Die Macht des Denkens bezieht sich
hier auf unsere eigenleibliche Erlebensform und Ausdrucksweise.
Subjektives
eigenleibliches Erleben geschieht nicht unabhängig von der Welt und Kultur, in
der wir erleben. Die eigene Dynamik aber von der kulturell beeinflussten
unterscheiden zu können, darin besteht die leibphilosophische Kunst der
Selbsterkenntnis.
Wie
Hermann Schmitz in §77. Die Macht (Hermann
Schmitz. 1982. System der Philosophie. Der Leib. Bonn. S.359ff ) handele ich zunächst
nicht von objektiver, sondern von subjektiver Macht.
Das
Machtgefühl erläutert Schmitz am Beispiel von Mussolinis Ausdruck, das
islamische Schwert mit großartiger Geste in der Luft zu schwingen - ein Prahlen
der Macht. Es sei eine Schwellung, die eine Spannung bei sich hat, gegen die sie
sich durchsetzend steigert. Macht wird hier als Wollust verstanden, z.B. im
geschlechtlichen Machterleben des Mannes, wenn er vom Weibe Besitz ergreift, wie
es im Text heißt. Weiter heißt es: Macht erlebt ein Mann, der durch leisen
Druck auf den Knopf einen gewaltigen Apparat in Bewegung setzen kann. Der
geschickte Sportler erlebt Macht usw.
Hier
wird Macht als eine Empfindung verstanden, die sich bei Männern einstellt, die
etwas erobern, Besitz ergreifen, etwas Großes in Gang setzen oder
Geschicklichkeitsmeister sind und ihren Körper oder Maschinen etc. beherrschen.
Dies meint der Begriff „Steuerungsfähigkeit“.
Wenn
es um die Macht dieses auf ein Objekt bezogenen Denkens geht, wobei auch der
eigene Körper als ein Objekt verstanden wird,
könnte hier in Analogie jenes Gefühl gemeint sein, das sich einstellt,
wenn der Urheber einer Idee großen Erfolg hat und viele Menschen lenkt, z.B.
der Marxismus. Karl Marx könnte von so einem Machtgefühl des Denkerfolges
bewegt gewesen sein angesichts der ersten Internationale. Oder der Mann erlebt
es als Machtempfindung, wenn die Frau, die ihn liebt, seine Gedanken annimmt und
durch diese sich in der Welt zu orientieren versucht. Die Macht des Denkens wird
hier als Dominanzerleben über andere Menschen oder die Trägheit oder
Andersheit des eigenen Körpers verstanden.
Mit
diesem Machtbegriff als Steuerungsvermögen komme ich aber nicht sehr weit, wenn
ich die Denkerfahrungen von Philosophinnen verstehen möchte. Denn weder stosse
ich dort auf die Vorstellung, eine Wollust der Macht beim Inbesitznehmen eines
Geschlechtspartners zu empfinden, noch gibt es Machtbilder im politischen Rahmen
zu finden, sportlich kraftvolle Körperideale oder Steuerungsmachtgefühle über
Maschinen etc.
Ich
beziehe mich hier auf „Maschinen“, weil das Wort „Steuerungsfähigkeit“,
wie er hier auf der Tagung kursiert, aus
der Ingenieurswelt stammt.
Trotzdem
thematisieren auch Philosophinnen die Macht des Denkens, aber als eigenleibliche
Dynamik mit sich selbst, und das nicht als ein Objektverhältnis.
Fruchtbar
für das Verständnis ist die Erläuterung von Nietzsche: Macht kommt von machen
können. Etwas machen können, was manfrau machen will.
Eine
Machtempfindung stellt sich ein, wenn ich etwas machen kann, was ich selber
bewerkstelligen kann, was ich selber tun kann. Ich bin Wirkursache dessen, was
durch mein Handeln geschieht. Diese Bestimmung trifft zwar auch noch auf die erwähnten
männlichen Machtempfindungen der Steuerungsfähigkeiten zu, aber sie überschreitet
diesen objektorientierten Bezugsrahmen und bezieht die Selbstgestaltungsfähigkeiten
psychischer Dimensionen mit ein und spaltet nicht Subjekt und Objekt. Denken als
Machtempfindung hat bei Philosophinnen häufig die Freiheit der Selbstgestaltung
im Blick. Es geht weniger darum, andere oder etwas zu dominieren oder zu
steuern, sondern es geht mehr darum, etwas Selbstgewolltes mit sich machen zu können,
sich selber als Menschen gestalten zu können. Und dazu gehört, nicht abhängig
zu sein von dem Gestaltungswillen und Gestaltungsakt anderer und auf andre.
Diese
Richtung, Denkfreiheit als Selbstgestaltungsmacht zu erleben, findet sich auch
bei Philosophen, aber doch in anderer Weise als bei jenen Philosophinnen, die
ich Ihnen vorstellen möchte.
Sappho
hat vor 2600 Jahren als Erste in der Philosophiegeschichte leibsprachlich die
Empfindung des Denkens als Selbstreflektion ausgedrückt.
„Weiß
nicht, was ich zu tun; denn entzweit ist das Denken mir.“ (Sappho. 1978.
Strophen und Verse. Übers. und Hrsg. Joachim Schickel, Frankfurt am Main.
XXVII. S. 26) Denkerleben wird nicht als zielgerichtetes Fokussieren nach außen
erlebt, sondern als Auseinanderfallen von verschiedenen Gedankeninhalten
gleichzeitig, die sich auf eine Handlungsentscheidung innerhalb gewusster
Optionen beziehen. Denken wird hier schon a la Popper als „Probehandeln“
verstanden.
Zwiespältiges,
ambivalentes Verspüren, was eine autonome Mehrdimensionalität des Erlebens
voraussetzt, drückt Sappho aber nicht nur aus, wenn sie ihre Denktätigkeit
beschreibt. Das erotische Gefühl, Eros genannt, beschreibt sie als „bittersüßes
entmachtendes Ungetier“. (Sappho.
LXV. S.58)
Zwei
gegensätzliche Empfindungen, die eine bitter, die andere süß, werden
gleichzeitig wahrgenommen. Ebenso wie die Entzweiung der Gedankenformen.
Mit
Entmachtung wird hier aber nicht im erotischen Gefühl die Unterwerfung unter
ein erotisch begehrtes Objekt gemeint, wie es ein Mann oder eine Frau sein kann,
sondern es ist wohl mehr die Entmachtung der reflektierenden Kontrolle über die
eigenen Gefühle gemeint. Dieses Auseinanderfallen findet sich auch z.B. bei
Kirkegaard, aber er entscheidet sich zugunsten einer Vernunft, die das Gefühl
abspaltet und zu verdrängen versucht. Das macht Sappho nicht.
Auch
sie vertritt, dass Denken zum selbstbestimmten Handeln und Fühlen befähigt,
aber nicht jenseits der Empfindungen. Im Gegenteil. Sappho sah die Macht, oder
das Machenkönnen des Denkens darin, ihre Gefühle mit ihrem Wollen und Denken
integrieren zu können, ohne dass dem Denken die Steuerungshoheit zugesprochen
wird, die alles andere zu kontrollieren hätte.
Der
verdiente Altphilologe Bruno Snell hat zwar diese erste uns bekannte
reflektierende autonome Denkleistungbeschreibung im Abendland erwähnt, aber
diese dennoch nicht als frühe Leistung in der Philosophiegeschichte anerkannt.
Dieses
selbstbeobachtende und selbstreflektierende Denken zur Selbstgestaltung ist noch
in weiteren Sätzen von Sappho zu finden.
„Macht
sich in Deinem Herzen der Zorn breit, nimm sie in Acht, die eifernde Zunge.“ (Sappho.
LXXXI. S. 36) Reflektierendes Vermögen der Aufmerksamkeit auf eigenleibliche
Vorkommnisse war Inhalt ihrer Lehre für die Mädchen ihrer Akademie. Dabei
sprach sie von sich in ihrer Vorbildfunktion als Lehrende: „ Bin keine, die
wutentbrannt heimzahlt, wenn sie zürnt, nein, eher still halt ich mein Herz...
(Sappho. LX. S.57)
Diese
Kunst der leibnahen Selbstbeobachtung und Selbstreflexion wird besonders
sichtbar in der berühmten Beschreibung des Gefühls „Eifersucht“. Üblicherweise
wird diese kleine Abhandlung über ein gespürtes Gefühl unter Altphilologen (vergl.
Albrecht Dihle 1967. Griechische Literaturgeschichte. Stuttgart) als
„Pathologie der Liebe“ abgetan,
denn ihre Sprache lasse keine Distanz zu den Körpersensationen erkennen, keine
klare Unterscheidung zwischen Außen und Innen. Sie sei dem Gefühl verfallen.
Damit
wird Sappho jenes autonome Reflexionsvermögen abgesprochen, was erst 200 Jahre
später in der Philosophiegeschichte den Philosophen in der Gestalt des Sokrates
zuerkannt wird, obwohl Sokrates im Unterschied zu Sappho noch nicht sagte: Ich
denke, ich benenne, ich aber sage, sondern sein Gott (Daimonion) denke in ihm,
ebenso wie beim mit Sappho zeitgleichen Parmenides, der nicht selber denke,
sondern nur das sage, was die Göttin der Weisheit ihm offenbart habe. Die Macht
des Denkens als Selbstdenken kommt in den Fragmenten von Sappho sehr deutlich
zur Sprache, im Unterschied zu Parmenides und Sokrates.
Sapphos
Hinweise gehen über die rein phänomenologische Selbstbeobachtung hinaus, sie
fordert als Ethikerin Selbstgestaltung, bewusstes Agieren zwischen ethischem
Selbstbild und spontanen Empfindungen.
So
auch in dem Satz: „Will etwas sagen, aber es hält mich ab die Scham“. (Sappho.
LXIX. S.60)
Wir
kennen sie meistens nur als Gründerin der abendländischen Lyrik und verbinden
Liebesgedichte mit ihrem Werk, aber sie ist die erste Ethikerin des Abendlandes.
Sie denkt das menschliche Leben in verschiedenen ethischen Optionen und plädiert
für eine bestimmte, die sie lehrt.
Ihr
berühmter Satz: „Ich aber nenne schön, wonach einer sich sehnt“, oder
Snell übersetzt, „Ich sage, das Schönste ist, was einer liebt“, wird noch
als Satz im Zusammenhang von Liebesgedichten stehen gelassen, aber dieser Satz
ist der Schlusssatz ihrer pazifistischen Haltung zur erlebten
Kriegergesellschaft, die sie von außen ansieht um sich als Gegensatz dazu zu
formulieren.
„Einer
sagt, Reiter sind schön, ein anderer findet große Kriegsschiffe oder
marschierendes Fußvolk schön. Ich aber nenne schön, wonach einer sich
sehnt.“ (Sappho. V. S. 13)
An
dieser Stelle zeigt sich deutlich der Unterschied zu Sokrates.
Für
Sokrates ist die reine Vernunfterkenntnis dazu da, das sinnlich-leibliche
Erleben als nichtig auszuschalten, um Begriffe als objektiv wahre
herauszustellen, also jenseits vom Leiberleben als sterblicher Mensch im
sogenannten „Gefängnis des Körpers“. Der Dualismus zwischen Fühlen und
Denken wird hier zugunsten der Macht des Denkens gegen das gespürte Erleben
genutzt, um eine Dominanz des Denkens gegenüber leiblichen Regungen zu
behaupten. Es geht um die vielgerühmte Unterdrückung von Gefühlen und
Empfindungen.
Bei
Sappho ist die Denkkraft auf die Gestaltung des Leiberlebens gerichtet, aber
nicht als Domestizierungsakt der Unterdrückung und Verdrängung, sondern als
kreativer Prozeß der psychisch-ethischen Integration. Gefühle werden bewusst
kultiviert, nicht verdrängt. Bewusstes Leibverspüren gilt als erstrebenswertes
Erziehungsziel, das sie ihren Schülerinnen nahe bringt.
Modern
ausgedrückt könnten wir sagen: Sapphos Ziel der Erziehung ihrer Mädchen war
eine Steigerung der emotionalen Intelligenz durch selbstreflexive Fähigkeiten.
Der Psychologe Daniel Goleman schreibt in seinem vielzitierten Buch
„Emotionale Intelligenz“: „ Die Fähigkeit, seine Gefühle laufend zu
beobachten, ist entscheidend für die psychologische Einsicht und das Verstehen
seiner selbst. Wer die eigenen Gefühle nicht zu erkennen vermag, ist ihnen
ausgeliefert. Wer sich seiner Gefühle sicherer ist, kommt besser durchs Leben,
erfasst klarer, was er über persönliche Entscheidungen wirklich denkt, von der
Wahl des Ehepartners bis zur Berufswahl.“ (Golemann, Daniel. 1996. EQ.
Emotionale Intelligenz. München/Wien. S.65)
Wir müssen heute die Verkrustungen unseres Denkens seit Sokrates mühsam abarbeiten, während Sappho schon längst heute angekommen war.
Aus
der neueren Gehirnforschung wissen wir, dass Fühlen und Denken nicht klar
unterscheidbare Tätigkeiten des Gehirns sind. Bei jedem Denken sind Gefühlsareale
mit aktiv, ebenso wie bei leidenschaftlichstem Fühlen auch Aktivitäten in den
Sprachzentrumsanteile zu messen sind. Die Vorstellungen herrschender
Philosophiewissenschafter bestehen aber immer noch auf solche Entgegensetzungen,
womit der Denkprozeß selber missverstanden wird, und so eher reine Theorie oder
Spekulation ist, wobei unser menschliches Selbstverständnis eher verwirrt als
geklärt wird. Wir sind in der abendländischen Geschichte nicht den Denkweg der
Sappho gegangen, sondern die Denkwege in der Nachfolge des Sokrates. Und so
haben wir heute einen Machtbegriff mit dem Denken assoziiert, der unser
Selbsterkenntnisvermögen beschränkt.
Und
nun zur Frage der Legitimation der Macht des Denkens. Warum sollten wir als
Philosophinnen und Philosophen überhaupt noch Macht des Denkens einfordern?
Es
gibt nur eine Rechtfertigung, die Macht des Denkens ethisch zu genießen. Nämlich
dann, wenn sie in der Selbstgestaltung als Erfolg erlebt wird. Ich kann meine
Zunge im Zaun halten, wenn ich wütend bin und das sagen, von dem ich mir
vorstelle, dass ich als guter Mensch so reden würde, vor allem in einer
stressigen Situation. Die Macht der Selbstdefinition als Mensch im Hinblick auf
andere Menschen und die Welt kann für sich selbst als weitende Freude erlebt
werden. Im Hinblick aber auf andere Menschen, Lebewesen und Dinge ist in einer
Welt, die immer demokratischer werden
sollte, keine Wollust als Machtgefühl über andere Menschen ethisch
legitimierbar. Das Machtgefühl kann sich aber in handlungsrelevanten
Situationen zu einem Verantwortungsgefühl ändern, wenn eine entsprechende
innere Kultivierung vorangegangen ist. Darin sehe ich eine Leistungsfähigkeit
leibphilosophischer Überlegungen und Übungen.
Im
subjektiven Erleben sind nach außen gerichtete Machtgefühle eigentlich nicht
mehr ethisch legitimierbar. Daß ich Außermirseiendes als mächtig und mich
bedrängend erleben kann, ist eine andere Angelegenheit, dann fühle ich mich
angesichts von sogenannten „objektiven Mächten“ in den jeweils
entsprechenden Zuständen ihnen gegenüber. Die traditionelle Spürnis wäre „Ohn-macht“
und daheraus lässt sich der Wunsch nach dem Gegenteil, die Macht über das
Bedrohliche erklären, aber mehr als Vernichtungs- oder Steuerungswille. Wer
aber vernichtet, ich nicht mächtig oder steuerungsfähig sondern lediglich ohnmächtig
reaktiv.
Auch
andere Philosophinnen haben das Denken als eigenes Machterleben des sich
sozusagen selber machen könnens thematisiert. Die Brasilianerin Clarice
Lispector war fasziniert von der Macht des eigenen Denkenkönnens. Aber sie
distanzierte sich auch gleichzeitig davon: „Nur wer die Macht des
Konstruierens erfahren hat, kann auf sie verzichten.“(Lispector, Clarice.
1979. Passion nach G.H. Berlin. S.191)
Damit
ist die Macht des Konstruierens mit Worten gemeint, im Denken in Systemen, im
Bauen von scheinbar vollständigen Systemen. Das Lebendige aber braucht zur
Erkenntnis Offenheit, Entwicklungsraum, Schweigen, Nichtwissen, Unsagbares.
„Verzichten ist der wahre menschliche Augenblick“, verzichten auf die Macht
der Worte. „Es gibt etwas, das umfassender ist, dumpfer, tiefer, weniger gut,
weniger verwerflich, weniger schön. Obwohl auch dieses Etwas Gefahr läuft,
sich in unseren groben Händen in „Reinheit“ zu verwandeln, in unseren Händen,
die grob und voller Worte sind. (Lispector, Clarice.1982. Lehre oder das Buch
der Lüste. Berlin. S.170)
Das
lebendige Erleben selber wollte sie in Sprache bringen und stieß sich ähnlich
wie Wittgenstein an den leibfernen Sätzen unserer abstrahierenden Grammatik,
den Grundformen unserer Logik im Denken und Konstruieren.
Sie
befand, dass unsere Sprachen nicht dazu taugen, sich selber als lebendige Wesen
im Leben zu verstärken und so zu erfahren.
Die
Sprache von Sappho war allerdings leiborientierter und damit auch lebendiger.
Lispector
betonte, Verzicht auf Macht ist nur denjenigen möglich, die diese Macht des
Denkens erfahren können, also auch nach einer Jahrtausende langen
Vernunfttradition. Dieser Verzicht geschieht um etwas, was manfrau in der Welt
will, erfahren will durch das eigene nonverbale Spürvermögen. Hier müsste
eine Art bewusste Selbstgestaltung jenseits des normal überlieferten
Logos kultiviert werden.
Vor
allem um 1900 haben Philosophinnen die Macht des Selberdenkens fast beschworen,
um das Gefühlsleben bewusst zu kultivieren. Dabei ging es darum, sich nicht
abzufinden mit jenen Liebesgefühlen zum Beispiel, die damals als üblich galten
und das Geschlechtserleben für Männer und Frauen in enge Zwänge presste. Die
Philosophin Rosa Mayreder nannte dies den Bankrott der Innerlichkeit und
schrieb: „Was ein Mensch aus seiner Liebe macht, zeigt den Grad seiner inneren
Lebenskultur, seine Fähigkeit, das Naturgegebene in eine Leistung seiner Persönlichkeit
zu verwandeln.“(Mayreder, Rosa. 1927. Ideen der Liebe. Jena.
S 45f)[1]
Das
Ideal der kultivierten Persönlichkeit, vor allem des kultivierten Mannes machte
die Runde.
Die
Fähigkeit, das eigene Vorfindliche in die Leistung eigener Persönlichkeit zu
verwandeln, ist die Selbstmacht des kreativen Denkens, der Analyse, des
Reflektierens und Erkennens für die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Dieses
Denken bleibt nicht nur als reines Sprachsystem abstrakt vorstellbar, sondern es
ist somatisch leiblich verknüpft und wirkt direkt in Handlungsfähigkeiten
hinein. Ich meine es so ähnlich, wie Kant von der „Revolutionierung der
Denkungsart“ schreibt. Die Revolution im eigenen Charakter und in der
Verhaltensweise geht ganz plötzlich vonstatten, wenn das Denken die Verbindung
zur Erfahrung als Gefühlserleben beibehält. Sein intellektuell
„selbstgewirktes Gefühl“ nannte er die Achtung. Denn dieses Gefühl ist nur
mit einem Vernunftideal bewirkbar.
In
die Umbruchszeit der anthropologischen Selbstdeutungen um 1900 gehört auch die
Psychoanalyse und die Entdeckung unserer Einflussmöglichkeiten von unseren
kognitiven Vermögen her auf unser Gefühlsleben, der sogenannte „Psyche“.
Diese
Macht, sich selber forschend zu eigenen Selbstentwürfen hin zu gestalten, wird
dem Denken in vielen Schriften von Philosophinnen zugesprochen. Darin erblicken
sie auch die Attraktivität des Denkanspruches.
In
meinem Büchern „Sophias Leib“ und „Philosophin der Liebe“ habe ich
diese Thematik ausführlicher dargestellt. Wichtig ist mir dabei, hier dieses
Machterleben im Denken zu unterscheiden von einem auch möglichen Denken, das
dazu fähig ist, Erleben zu unterdrücken oder zu verdrängen, um sich einen
Herrschaftsstatus in irgendeiner Rangfolge zu erobern.
Nun
zur Macht der Denker.
Die
Macht der Denker möchte ich hier als objektiv orientierte und objektive Macht
thematisieren, als eine die von außen dem einzelnen Menschen vorgesetzt wird.
Die
meisten Philosophen haben ihre Denkfähigkeit, die sie Vernunft nennen, als eine
spezifisch männliche Fähigkeit definiert und das heißt, abhängig von ihrem Körper
als Mann. [2] Diese Definitionsabhängigkeit von geschlechtlicher
Existenz wird nur selten reflektiert. Die scheint einfach ultimativ
vorausgesetzt zu werden.
So
wird von der Antike bis heute die angeblich bessere Denkfähigkeit des Mannes
als Legitimation dafür angeführt, dass die Frau sich der perfekteren Vernunft
im Manne unterzuordnen hat.
Nach
der Samentheorie des Aristoteles ist die formende Vernunft im männlichen Samen
enthalten und hat mit dem Weibe nichts zu tun. Darum müsse er sie als Stoff
seiner Formgebungen regieren.[3]
Rousseau:
„Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, Prinzipien und
Axiome der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe
abzielt, ist nicht Sache der Frauen. Ihre Studien müssen sich auf das
Praktische beziehen. Ihre Sache ist es, die Prinzipen anzuwenden, die der Mann
gefunden hat.“(Rousseau,Jean-Jacques.1978. Emil. Paderborn. S. 420f)
Nach
Kant kann die Frau höchstens einen schönen Verstand haben, aber niemals
Vernunft, das Organ der Ideenbildung.
Oder
nach Lichtenberg: „Die Natur hat die Frauenzimmer so geschaffen, dass sie
nicht nach Prinzipien, sondern nach Empfindungen handeln soll“. (Lichtenberg,
Georg Christoph.1974.Werke.Hrsg. R.K. Goldschmit/Jenter. Stuttgart. S. 227)
Und
Fichte fasst die Geschlechtscharaktere zusammen: „Es lässt sich nicht
behaupten, dass das Weib an Geistestalenten unter dem Manne stehe; aber es lässt
sich behaupten, dass der Geist beider von Natur einen ganz verschiedenen
Charakter habe. Der Mann bringt alles, was in ihm und für ihn ist, auf
deutliche Begriffe. Das Weib hat ein natürliches Unterscheidungsgefühl für
das Wahre, Schickliche, Gute ... Der Mann muß sich erst vernünftig machen,
alle seine Triebe erst durch Mühe und Thätigkeit der Vernunft unterordnen“.
(Fichte, Johann Gottlieb.1971. Werke Bd.3. § 38. Berlin. S. 352f)
Hegel
folgert weiter: „Das Männliche und Weibliche teilt sich in zwei Wesen und
deren Wirklichkeiten: Das eine Extrem, der allgemeine sich bewusste Geist, und
das andere Extrem, der bewusstlose Geist. Der bewusstlose Geist hat sein Dasein
an dem Weibe und kommt in der Vereinigung mit dem Mann aus dem Unwissenden und
Unbewussten in das bewusste Reich“. (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie
des Geistes. 1973. Hrsg. Lukàcs, Georg. Frankfurt am Main.S.260 )
Ludwig Klages, der wie Nietzsche die Geschlechtschraktere in ihren Wertungen umdreht und dem Manne mehr Seele zuspricht behauptet: „Der typische Mann ist mehr Denker als das typische Weib; so denken denn Frauen öfter an etwas als über etwas“. Klages, Ludwig. Der Geist als Widersacher der Seele.1932.Bd.3. Bonn. S.1346f)
Jener
Philosoph, der als erster das Geschlechterthema zu seinem philosophischen
Hauptthema machte und noch Adorno als Geheimtipp galt, Otto Weininger, arbeitete
heraus: „Der Mann kann sich seiner Sexualität gegenüber stellen, sich in ein
Zwiegespräch begeben mit seinem sexuellen Organ. Die Frau kann das nicht.
Zweiheit ist die Ursache des wachen Bewußtseins. Darum kann er denken, sie
nicht“. (Weiniger, Otto. 1919. Geschlecht und Charakter. Leipzig. S.332f)
Und
der Institutionenphilosoph Arnold Gehlen schrieb: „Die Frau ist unmittelbarer
als der Mann auf den einzelnen Menschen ausgerichtet, ihr Interesse liegt
weniger als das des Mannes im Grundsätzlichen und bei abstrakten Fragen.“
(Gehlen, Arnold. 1957. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft von heute. In:
„Rotes Kreuz“, Heft 7. S. 17 ) Und darum solle sie auch keine Führungsposition
im Staate und in der Wirtschaft haben.
Interessant
für eine leibphilosophische Untersuchung ist, dass das Denken als eine im männlichen
Körper übliche Tätigkeit sei, es wird nicht körperunabhängig als reine
Geisttätigkeit ohne körperliche Vermischung definiert, so wie in anderen
Zusammenhängen Geistige Tätigkeit als unabhängig vom Körper definiert wird.
Warum dieser Verrat am üblichen patriarchalen Ideal des reinen körperunabhängigen
Vernunftdenkens bei fast allen Philosophen zu finden ist, bleibt rätselhaft.
Offensichtlich
aber ist, dass der politisch/kulturelle patriarchale Machtanspruch eine
Unterwerfung der Frau philosophisch zu legitimieren sucht. Es werden
Begriffssysteme der Vormachtstellung des Denkens gegenüber dem Nichtdenken in
Bezug auf die menschliche Geschlechtsdimension erfunden.
Die
Frau wird als das Nichtdenkende dargestellt, als das Natürliche, fast
Tierische, Natur.
Was
wird hier eigentlich legitimiert?
Es
wird behauptet, der Mann könne seinen Körper besser beherrschen als die Frau,
die der Natur ausgeliefert sei, weil er sich darum Kraft seiner Vernunft bemühen
könne und müsse.
Das
Denken der Philosophen beschäftigt sich aber erst in neuerer Zeit mit der
eigenen Kultivierung der inneren Tätigkeiten und Spürnisse. Was für
Philosophinnen schon seit Sappho Tradition hat, nämlich selbstreflektierend
sich und die Welt überhaupt wahrzunehmen, ist in der alten teilweise noch
herrschenden Philosophie fremd.
Die
Macht der Denker beschränkt sich oftmals in der Frage nach sich selbst als
Denker auf die Legitimation der objektiven politischen Macht der Männer über
die Frauen, Kinder und früher auch Sklaven und andere Untergebene und
restlichen Objekte. Es geht um Machtpositionen in der Welt da draußen, die
gerechtfertigt werden sollen. Solange
ein Philosoph bei politischen Machthabern Unterstützung findet - so wie
Sokrates bei Perikles - weil er dessen Machtansprüche legitimiert und
inhaltlich begründet, wird er selbst auch als wichtiger mächtiger Denker öffentlich
gerechtfertigt und publiziert. Da heutzutage politisch einflussreiche Menschen
sich nicht mehr bei Philosophen Rat holen, ist die alte objektorientierte
Machtempfindung des Denkers Vergangenheit geworden, ein historisch abgelegtes
Selbstempfinden.
Für
sich allein spürt der Philosoph normalerweise keine Macht des Denkens. Zwar
wird gegenwärtig der Aspekt der „Selbstsorge“ von Sokrates bis heute
philosophiewissenschaftlich herausgefiltert, aber Selbstkultivierung ist selten
Thema des philosophischen Denkens, noch seltener ein Hauptthema (außer bei
Kant). Allerdings finden wir bei Hannah Arendt in ihren letzten Vorträgen
„Vom Leben des Geistes“ die Selbstmächtigkeit des Denkens beschrieben. Sie
stellt fest:
„Bei
jedem Menschen kann es dazu kommen, dass er dem Verkehr mit sich selbst
ausweicht. Das Denken begleitet das Leben, es hat keine politische Bedeutung...
Daß ich, solange ich lebe, mit mir selbst leben können muß, dieser Gedanke
tritt politisch nicht in Erscheinung.“( Arendt,Hannah.1998. München. S.190f)
Alleinsein
ist dem Denken als Umgehen mit sich selbst notwendig. Der Mensch ist nicht nur
als Gemeinschaftswesen definiert, sondern auch als ein Wesen, das sich zu sich
selbst verhalten kann und mit sich allein „Gesellschaft“ haben kann. Er ist
nicht nur ein zoon politicon, wie Aristoteles definierte.
Die
Macht der Denker war lange Zeit abhängig von den jeweilig herrschenden politisch Mächtigen.
Die
Frage für mich ist, wofür eigentlich das Wort Macht noch ethisch nützlich
ist. Zwar hat Hannah Arendt Macht von Gewalt abgegrenzt und diese als Fähigkeit
definiert, das Einverständnis anderer mit dem Eigenen ohne Gewalt zu erzeugen,
aber dasselbe kann mit dem neueren Begriff der kommunikativen Kompetenz
angemessener umschrieben werden. Das Wort Macht kommt aus einer alten noch nicht
vergangenen Tradition. Außer als Fähigkeit zur Selbstreflexion sehe ich keine
Notwendigkeit, das Wort Macht weiterhin als ethisch sinnvoll zu legitimieren.
Warum
sollte ich das Wort „Macht“ weiter in meinen Selbstbeobachtungen und
Selbstbetätigungen verwenden? Es gibt viele andere neue Worte, die wir für
unsere Art, denkend miteinander und mit sich selbst umzugehen, finden können.
Vielleicht würden wir dieses Wort „Macht“ gar nicht mehr vermissen?
Literatur:
Ahrendt
Hannah: Vom Leben des Geistes. München/Zürich 1998
Dihle,
Albrecht: Griechische Literaturgeschichte. Stuttgart 1967
Blersch, Konrad: Wesen und Entstehung des Sexus im Denken der Antike. Stuttgart-Berlin 1937
Fichte, Johann Gottlieb. Werke Bd.3. Berlin 1971
Gehlen, Arnold. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft von heute. In: „Rotes Kreuz“, Heft 7. o.O.1957
Goleman, Daniel: EQ. Emotionale Intelligenz. München/Wien 1996
Lichtenberg, Georg Christoph: Werke.Hrsg. R.K. Goldschmit/Jenter. Stuttgart 1974
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. Lukàcs, Georg. Frankfurt am Main 1973
Klages, Ludwig. Der Geist als Widersacher der Seele.Bd.3. Bonn 1932
Lispector,
Clarice: Passion nach G.H. . Berlin
1979
Mayreder,
Rosa: Ideen der Liebe. Jena 1927
Rousseau,Jean-Jacques :
Emil. Paderborn. 1978.
Sappho. Strophen und Verse. Schickel, Joachim: Hrsg. Übersetzer. Frankfurt am Main 1978
Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Der Leib. Die Macht §77. Bonn 1982
Stopczyk,
Annegret: Was Philosophen über Frauen denken. München 1980. Muse Mutter Megäre.
Was Philosophen über Frauen denken. Berlin 1997.
Stopczyk,
Annegret: Sophias Leib. Der Körper als Quelle der Weisheit. Heidelberg 1998,
Stuttgart bod 2003
Stopczyk,
Annegret: Philosophin der Liebe. Helene Stöcker. Die „Neue Ethik“ um 1900
und ihr philosophisches Umfeld bis heute. Stuttgart bod 2003
Weiniger,
Otto. Geschlecht und Charakter. Leipzig Weiniger, Otto. 1919 Geschlecht und
Charakter. Leipzig
[1] Anmerkung: Ich nenne Rosa Mayreder und auch Sappho eine Philosophin, obwohl sie nicht Philosophie studiert haben. Wie in der fiktiven Literatur unterscheide ich zwischen Philosophie (Dichtung) und Philosophiewissenschaft (Literaturwissenschaft). Auch Sokrates, Nietzsche und Wittgenstein haben nicht Philosophie studiert, aber dennoch mit ihren kreativen philosophisch erarbeiteten Gedanken unsere menschliche Selbsterkenntnis weiter entwickelt.. Bekanntermaßen ist nicht notwendig ein Literaturwissenschaftler zugleich Dichter, dieselbe Logik gilt auch zwischen einem Philosophen/einer Philosophin und einem Philosophiewissenschaftler/ einer Philosophiewissenschaftlerin. Nähere Ausführungen dazu in meinem Buch 2. Auflage „Sophias Leib. 2003. Stuttgart. bod “.
[2]
Siehe mein Buch, was Philosophen über Frauen denken. München 1980
mit mehreren folgenden Auflagen auch unter dem Titel: Muse, Mutter Megäre.
Berlin. 2000.
[3] Vgl.: Blersch, Konrad. Wesen und Entstehung des Sexus im Denken der Antike.1937. In: Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft. Hrsg. Weinreich, Otto. Heft XXIX. Stuttgart-Berlin