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Heilen im Dritten Jahrtausend   - Tabus und Visionen

 Eröffnungsvortrag  Medica Düsseldorf 21.November 2001

Dr. Annegret Stopczyk-Pfundstein

Sehr verehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich sehr herzlich dafür bedanken, daß mir die Ehre erwiesen wird, diesen Vortrag auf Ihrer Messe, dem Weltforum für Ärztepraxis und Krankenhaus zu halten.

Es ist mir eine besondere Freude, weil ich als  „Leibphilosophin“ inhaltlich eine besondere Nähe zu all den Themen habe, die Sie im Gesundheitsbereich beschäftigen.

Sie werden fragen: Was ist denn eine Leibphilosophin? So etwas ähnliches wie ein Leibarzt vielleicht oder hat das etwas mit Leib- und Magengericht zu tun, wie die deutsche Sprache assoziieren läßt?

Nein. Ich bin Philosophin einer neueren philosophischen Richtung der Leiblichkeit, die zwar schon eine längere untergründige Tradition im europäischen Denken hat, die aber jetzt, zu Beginn des Dritten Jahrtausends, durch gegenwärtige Denkerinnen und Denker in verschiedenen Ländern, auch in den USA, neu thematisiert wird.

Sie haben in der Medizin wohl am meisten von allen Berufen mit dem Körperhaben und dem Körpersein zu tun. Im Bereich des „Körperhabens“ geht es um all die Krankheiten, die Sie therapieren und von außen erforschen können. Im Bereich des Körperseins geht es mehr um die subjektive Seite des Körperhabens. Schmerzen, nervliche Belastungen, psychische und somatische Phänomene. Diese benenne ich eher mit Leibsein.

Bisher hat sich die europäische Philosophie und auch Kultur und Bildung hauptsächlich durch eine Hinwendung zu mehr Geist oder Vernunft definiert und dabei das körperliche Dasein als zweitklassige Dimension wenig beachtet. In der Leibphilosophie geht es nun darum, ein Menschenbild zu erschaffen, in dem das menschliche Leben nicht getrennt in Körper und Geist aufgefaßt wird, sondern als gegenseitige Durchdringung; sie sind gegenseitig aufeinander angewiesen.

Wir haben dafür noch kaum ausgearbeitete Vorstellungs- und Denkweisen. Auch eine ausgearbeitete Begrifflichkeit ist dafür noch nicht in größerem Umfang vorhanden. Aber Vieles, was heute passiert, womit oft Werteverfall und  Orientierungslosigkeit  verbunden wird, interpretiere ich leibphilosophisch als Ablösungsform von alten dualistischen Strukturen des Denkens, Erkennens, Fühlens und auch Wirtschaftens. Wir im Westen erleben heute die Welt individueller als früher, komplexer als die großen Wahrheiten behaupten und gleichzeitig auch globaler durch die international vernetzte Medienwelt. Alles ist nicht mehr in Entweder-Oder-Kategorien verstehbar, sondern mehr in sowohl-als-auch-Kategorien. Damit kulturell und intellektuell umzugehen, ist noch neu.

Wir haben in Europa eine zweitausendfünfhundert jährige Geschichte unserer westlichen Kultur hinter uns. Wir haben das, was westliche Zivilisation genannt wird, und wir sind bereit uns für den Erhalt unsere zivilisatorischen Errungenschaften auch militärisch außerhalb von Europa einzusetzen. Was aber verstehen wir unter „Zivilisation“? Islamistische Gelehrte behaupten, daß erst im arabischen Raum Zivilisation entstanden sei, so wie auch die christliche Religion vor zweitausend Jahren dort ihre Wurzeln hat und nicht im Abendland.

Was Zivilisation sei wird wohl ein großes Thema der Zukunft, in dem sich die verschiedenen Kulturen überlegen werden, was für sie das Wort „Zivilisation“ bedeutet. Dieses umfassende Thema kann ich jetzt nicht heute abend in einer halben Stunde abhandeln, aber ein Gebiet möchte ich daheraus greifen und Ihnen dazu meine leibphilosophischere Denkungsweise etwas bekannt machen.

Das Heilen als säkularer Beruf gehört seit 2500 Jahren zu dem, was wir unsere Zivilisation nennen. Wenn vorher nur Priesterinnen und Priester heilten, so wie in manchen Kulturen heute ein Schamane oder eine Schamanin für Heilung zuständig ist, dann kann seit Hippokrates auf Kos in Griechenland jeder heilen, der sich selber dazu berufen fühlt. Die Selbstberufung zu dem, was unser Beruf sei, sehen wir inzwischen als ein Kernstück unserer westlichen Zivilisation an.

Ich frage Sie: Warum haben Sie einen Heilberuf ergriffen? Warum sind Sie im Gesundheitsbereich tätig? Warum denken Sie sich Medikamente und Technologien aus, die mehr Gesundheit für uns Menschen bringen sollen? Haben Sie dazu Antworten?

Und ich möchte im Tabubereich weiter fragen: Warum sollten Menschen eigentlich von Krankheiten geheilt werden? Warum sollte, wer schwer krank wird, nicht auch gleich sterben? Die Natur würde sterben lassen, was schwer erkrankt ist. Ist die Natur grausam?

In unserer bisherigen Kulturauffassung ist die Natur als etwas definiert, was wir nicht selber sind. Die Natur ist da draußen. Oft heißt es: Der Mensch und die Natur! Die Natur wird dabei als das aufgefaßt, was uns widerfährt, sie ist unser bloßer Naturkörper mit seinen Grundtrieben Hunger und Lieben. Für den griechischen Philosophen Sokrates, dem Begründer abendländischer Philosophie, war alles Körperliche von Übel, und erst die Vernunfterkenntnis befreie uns von den Schranken dieses Übels. Dabei sei wahre Vernunfterkenntnis erst im Tode möglich, vorher nicht. Unser Körper wird als Gefängnis der Seele angesehen, als das, was uns abhängig mache davon, daß wir Nahrung brauchen, Wohnung, menschliche Gemeinschaft. Krankheit komme nur daher, daß wir überhaupt körperlich da sind, von Frauen geborene Wesen sind. Die antike Aufklärungsphilosophie Griechenlands, eine Grundlage europäischer Zivilisation, gipfelt in der Auffassung: Das, was am Menschen Natur sei, sei gleichzeitig das, was er überwinden müsse, um ein autonomes Individuum zu werden.

Aristoteles zitiert weise Männer, die gesagt haben, es sei besser, erst gar nicht geboren zu sein. Alles Leiden kommt daher, daß wir geboren sind, körperlich in der Welt sind.

Da die meisten griechischen Philosophen an die Reinkarnation der Seele glaubten, gingen sie davon aus, daß es außer dem Leben im Körper auch noch ein rein geistiges Leben - unabhängig vom Körper - als Seele gäbe. Das Christentum hat später ebenfalls eine leibbefreite Religionslehre des reinen Geistes vertreten, die auch leibfeindlich war. Das Körperliche wurde mit Sünde und Schuld beladen gedacht, denken wir nur an die Tragödien um das Thema Sexualität herum. Auch Krankheit ist als eine Art Schuld oder Strafe Gottes interpretiert worden. Noch heute fragen viele Kranke: Warum ich? Was habe ich Schlechtes getan, daß ich so krank geworden bin?

Natur, Materie, Körperlichkeit, Leib bedeutet in dieser Konnotation all das, was für uns moralisch schlecht sei.

Aber aus leibphilosophischer Sicht frage ich: Ist es nicht auch Natur, daß wir Menschen denken können, daß wir Technologien und Wissen entwickeln können, uns selber das Leben zu erleichtern, Schmerzen zu lindern oder gar Krankheiten zu heilen? Wenn wir Menschen uns selber auch als Denkende als Natur verstehen, dann gibt es keine Un-Natur, nichts Unnatürliches. Dann ist alles Natur. Alles was wir tun, was wir können und entwickeln, ist auch Teil des Naturprozesses und natürlich begründbar, eben als menschliche natürlich. Sogar wenn wir chemische Produkte erfinden, sind diese Naturprodukte in dem Sinne, daß wir sie aus vorfindlichen Bestandteilen umgewandelt haben. Es gibt nur verschiedene natürliche Existenzweisen, Substanzen, Vermischungen. Vom Standpunkt alternativer Gesellschaftskritik aus  wird unsere Welt oft in Natur und Technik unterschieden, und alles, was mit der künstlichen, von Menschen geschaffen Welt verbunden wird, gilt als ethisch fragwürdig und unnatürlich. 

So gelten unsere Gefühle als natürlich, während unser Denken und unsere Vernunft noch wie zu griechischen Zeiten als nicht-natürlich und weltabgewandt interpretiert werden, nur daß die Griechen dieses Nichtnatürliche mit Göttlichkeit verbanden. Warum aber sollten Gefühle natürlicher sein als unsere  Gedanken? Weil Gefühle körperlich gespürt werden? Aber was ist mit Gedanken? Sind sie unkörperlich? Auch sie werden körperlich wahrgenommen; als innersprachlicher Vorgang, der sogar im Gehirn nachweisbar ist. Das Gefühl ist nicht natürlicher als der Gedanke. Auch ein Gefühl kann im Gehirn als spezielle Aktivität einer Region nachgewiesen werden. Und wie beim Gedanken wissen wir deshalb noch lange nicht, was für ein Gefühl es genau ist, das da als Intensitätsmessung nachweisbar ist. Denken und Fühlen sind nur verschiedene Möglichkeiten innerer Tätigkeit, die Menschen bei sich selber wahrnehmen können, initiieren können. Warum also sollten wir uns unser Vermögen zu denken und zu erfinden getrennt vom Körper vorstellen? Wir spüren es körperlich, wenn wir denken, wenn wir intellektuell kreativ sind. Nicht ein Geist denkt in unserem Körper, sondern: Denken ist ein körperlicher Akt. Wenn ich denke, denkt mein Körper. Wenn ich mein Denken innerlich wahrnehme, bin ich im Körpersein, oder eigenleiblich bewußt, wie ich es nenne.

In dem Moment, wo wir uns Natur als etwas vorstellen, was wir selber sind, auch als intellektuelle Menschen, heben wir eine vorgestellte Trennung zwischen Innen und Außen auf. Diese Trennungsvorstellung unserer Existenzweise hat seit 2500 Jahren unseren Kultivierungsprozeß wesentlich mitbestimmt. Diese Dualismus hatte zur Folge, daß wir die Außenwelt leicht als bedrohlich erfahren, als das, was uns fremd ist, als das, was möglichst klein gehalten werden muß. Aber: Das was Außen von mir ist, ist vielleicht mir gar nicht so fremd, wie ich bisher glaubte und mit diesem Glauben erfuhr.

Was wir als Natur, als Kultur, als Zivilisation verstehen, gerät aus leibphilosophischer Sicht in andere Blickwinkel und kann zeitgemäßer interpretiert werden.

Und nun wieder zum Thema Heilen: Wir können uns als Menschen nur selber heilen, wenn wir unsere eigenen Naturprozesse verstehen lernen. Nicht nur, indem wir uns von außen als Körper erforschen, das ist auch sinnvoll, sondern indem wir uns ebenfalls selber genauer wahrnehmen lernen. Der Philosoph Nietzsche, der wie kein anderer unsere Eigenleiblichkeit ins philosophische Denken einbezogen hat, schrieb: Ein guter Philosoph ist einer, der sich selber von einer Krankheit heilen kann. Anders gesagt: Ein umfassend denkender Mensch ist einer, der so sehr körperlich bei sich sein kann, daß er in sich erkennen kann, was ihm fehlt. Nietzsche kritisiert, daß unser Erkenntnisvermögen seit Sokrates nur nach außen gerichtet war, daß wir erst zu toten Objekten machen mußten, was wir erforschten. Nun ginge es in einer neuen Zeit darum, das größte Mysterium zu erforschen, das, was wir selber sind: unseren Leib.

Wir sind als Lebewesen solange nicht Mittelpunkt unserer Welt, wie wir kulturell erlernten, daß das Leben als Körperwesen nur zweitrangig sei. Zwar befindet sich diese Körperverachtung inzwischen in unserer westlichen Kultur in Auflösung, aber noch sehr deutlich steht uns diese leib- und auch lebensfeindliche Auffassung bei den Selbstmordattentätern vor Augen, die für ihren Gott oder ihre politische Idee ihr eigenes Leben bereitwillig töten. Ihr Heil liegt nicht in einer Gesundheit eigenen Leibes hier auf Erden. Gesundheit wird überhaupt nicht körperlich gedacht. Heilsein oder Ganzsein wird noch wie zu Sokrates Zeiten jenseits unserer körperlichen Naturwelt gedacht, als heilig werden.

Bei uns im Westen wird davon gesprochen, daß es ein neues Körperbewußtsein gäbe. Die Menschen befassen sich nicht erst bewußt mit ihrem Wohlbefinden, wenn sie krank sind, sondern sie versuchen vorher ihr Gesundsein zu steigern und zu genießen. Das, was manche noch für eine Modeerscheinung halten, daß jeder dritte Erwachsene irgendeine bewußte Körperübung  im Alltag anwendet, sei es ein Sport, Fitness, Wellness, Yoga, Meditation, bewußtes Atmen, wird sich als eine der Grundlagen zur neuen selbstbewußteren und auch individuelleren Lebensauffassung entpuppen. Wir genießen unser körperliches leibliches Sein. Wir wollen nicht nur frei von Krankheit und Leiden sein, wir wollen unser Gesundsein auch bewußt und möglichst lange genießen können. Anti-Aging ist die Devise. Nicht mehr Askese, Aufopferung für eine große Idee oder einen Gott soll unser Leben motivieren, sondern die Freude zu leben selber wird zum Lebenssinn erhoben. Das ist etwas, was bisher in unserer Kultur ein Tabu war. Der Philosoph Martin Heidegger spricht davon, daß unser menschliches Dasein ein Sein zum Tode sei. Schopenhauer sieht die Tragödie des Menschen darin, daß alles schließlich im Tode endet. Und weil der Mensch im Unterschied zum Tier weiß, daß er sterben wird, daß er endlich ist, daß sein Leben ein Ende hat, könne er sich nur von diesem Ende her sehen. Angesichts des Todes müssen wir leben. Lebensangst motiviert unsere Handlungen.

Modern ausgedrückt: Wer lacht, ist naiv, wer tanzen und küssen will, erstrebe nur die Spaßgesellschaft.

Aber warum wollen wir gesund sein, warum wollen wir uns von Schmerzen befreien und von Krankheiten heilen, möglichst lange leben und schöne Stunden genießen?

Warum hängen wir an diesem Leben zwischen Geburt und Tod?

Albert Schweizer würde ganz einfach sagen, weil wir Lebewesen sind, so wie alle anderen Lebewesen auch. Und Leben will leben inmitten von Leben.

Aber wir sind nicht nur einfach gegenwärtig erlebende Lebewesen, wie andere Tiere auch. Wir denken an morgen, wir erinnern uns an gestern, wir wissen, daß wir Schmerzen empfinden können und sterben werden, irgendwann oder vielleicht auch schon bald.

Wir genießen nicht wie eine Katze schnurrend im warmen Schatten der heißen  Sonne die Hälfte unseres Lebens.

Das Schwierigste, das wir im Leben angesichts des Todes sagen können ist „Ja zum Leben“. Ja sagen. Sagen Sie, wie Sie jetzt hier sitzen und zuhören, ein tiefes grundsätzliches Ja zum Leben? Leben Sie gern? Was ist Leben? Es ist leicht ja zu sagen, wenn es einem gut geht, und wir im Urlaub  für kurze Zeit wie eine Katze in der Sonne liegen. Wenn wir gut zu essen haben, kein Schmerz uns plagt und liebste Menschen um uns sind.

Aber Leben ist eben auch kranksein, mitwissen, daß andere Hunger haben, während wir satt sind. Mitansehen, wie wir eben nicht heilen können oft genug. Wie Menschen sterben, auch wenn sie gesund werden wollen und wir unser Bestes geben.

Viele Ärztinnen und Ärzte nennen sich nicht mehr Heilende. Sie verstehen sich nicht als Heilerin oder Heiler. Eher als Begleiterin oder Begleiter, manche auch als Dienstleiterin oder Dienstleister von bestimmten Produktbereichen. Sie nennen ihre Patienten Kunden, oder Ratsuchende. Daß sie Kranke sind, die geheilt werden möchten, steht weniger im Mittelpunkt. Krankbleiben ist für viele Heilberufler schwer zu ertragen. Sie empfinden sich als Versager, wenn sie nicht heilen können. Darum wohl auch verwenden sie den Begriff nicht mehr.

Ist das ein ja zum Leben? Es ist ein Nein zum Kranksein. Eine Abwehr, sich angesichts des Todes definieren zu müssen. Eben ein todesbewußtes Lebewesen zu sein und trotzdem Ja zum Leben zu sagen, das unabänderlich sterblich ist.

In meinem letzten Ärzteseminar ging es um das Thema: Was ist das größte Tabu in meinem Berufsleben? Erstaunlicherweise für mich kamen weniger die gesundheitspolitischen Fragestellungen ins Blickfeld, als vielmehr die Herausforderung angesichts des Todes heilen zu sollen und auch heilen zu wollen. Wie sag ich es meinem Patienten, wenn ich keinen Rat mehr weiß, wenn ich keine Chance mehr sehe? Was mache ich mit all den vielen Medikamenten, mit all den vielen Patienten in meinem Wartezimmer, mit dem Zeitdruck in der Praxis, wenn ich für den konkreten Schwerkranken nichts zu tun weiß, obwohl es vielleicht noch Möglichkeiten gäbe, aber Zeit für Weiterbildung ist nicht da. Wie fühlt sich der englische Chirurg, der bevorzugt Polypen heraus operiert, weil es schnell und mit der Kasse besser abzurechnen geht, während Schwerstkranke auf einer langen Warteliste stehen, weil ihre Operationen lange dauern und teuer für die Krankenkasse sind? Warum wundert sich die englische Regierung, daß unter diesen Umständen junge Menschen nicht mehr den Medizinberuf ausüben wollen, daß Ärztemangel im Land herrscht? Mancher Arzt weiß: Schwerkranke müssen wegen den politischen Rahmenbedingungen unnötig sterben. Soweit ist es bei uns nicht. Im Gegenteil: Englische Kassen schicken bereits ihre Kunden in deutsche Krankenhäuser.

Aber auch in Deutschland haben wir Identifikationsambivalenzen mit dem Heilberuf. Je älter die Menschen werden, desto älter und gesünder wollen sie sein. Eine Frau sagt vielleicht als zwanzigjährige, daß sie gut mit siebzig sterben könne, das sei alt genug, aber mit achtzig möchte sie dann doch eine teure Hüftoperation, um wieder wie früher laufen zu können. Die Menschen möchten länger und gesund auch im Alter leben. Vor zwanzig Jahren hat der deutsche Bundespräsident Glückwunschkarten an hundertjährige Bundesbürger persönlich unterschrieben und verschicken lassen. Inzwischen gibt es so viele Hundertjährige in Deutschland, daß mehrere Angestellte diese Karten bearbeiten.

Ärztinnen und Ärzte und auch andere im Heilberuf Tätige wollen von ihrem Berufsethos her heilen, sollen sie auch, müssen sie auch, wenn sie können. Aber wie fühlen sie sich in ihrer Existenz, wenn sie ihre ganze Begabung mobilisieren, viele vitale alte Leute ihre Praxis frequentieren und gleichzeitig aber die Politiker sagen, die Rentenkassen halten das nicht aus. Der Generationenvertrag zerbricht. Politisch ist es eigentlich gar nicht sinnvoll, daß Menschen so lange leben und sich dafür immer wieder von Krankheiten heilen lassen. In England gilt das unausgesprochene Gesetz, Senioren eben nicht mehr unbedingt heilen zu sollen. Ein sogenanntes „sozialverträgliches Ableben“ ist intendiert. Provokant gesagt: Der Arzt oder die Ärztin schadet der Gesellschaft im Ganzen, wenn er oder sie ältere kranke Leute heilt.

Diese Spannung zwischen politischen Rahmenbedingungen und praktischem Heilethos kann ausgehalten werden, indem einfach das Heilen als höchstes Ziel eigener Praxis aufgegeben wird, oder indem auch Heilberufler ihr Ethos neu überlegen und  gegebenfalls auch politisch sich einbringen. Sie befinden sich an der Schnittstelle eines neuen Zeitalters, in dem das leibhaftige Leben zum Selbstwert wird. Darauf aber sind wir noch nicht eingerichtet.

Da wir Menschen wissen, daß wir sterblich sind, verhalten wir uns zum Tode. entweder ignorierend, indem wir sagen, es gibt bessere Reiche für uns jenseits dieses irdischen Lebens, oder  bejahend, indem wir dieses Leben hier zwischen Geburt und Tod wirklich auch genießen wollen und das möglichst lange.

Dabei ergab eine Emnid-Umfrage in Deutschland, daß die meisten Deutschen nicht ewig leben wollen. Nur drei Prozent möchten gern unsterblich sein. 40% wollen auf die Länge ihres Lebens keinen Einfluß nehmen, sie konsultieren wahrscheinlich kaum die Arztpraxis. Aber die Hälfte etwa möchte bis etwa 90 Jahre gut leben.  Also geht es gar nicht darum, dem Tod total auszuweichen, und nicht darüber zu reden. Wer ein langes erfülltes Leben hatte, wie Goethe zum Beispiel, wird am Ende irgendwann sagen, so, jetzt ist es genug. Mit so jemandem kann ein Arzt oder eine Ärztin offen reden über den kommenden Tod, da muß es kein Tabu geben. Oftmals sind es auch gar nicht die Sterbenden, die den Tod tabuisieren wollen, sondern es sind die Hinterbleibenden, die es dem sterbenden Menschen schwer machen. Hier fehlt uns eine Kultur, die mit unserer Endlichkeit angemessen umgehen kann. Über neunzig Prozent der Menschen in unseren westlichen Gesellschaften sterben im Alter an Krankheiten und nicht unbedingt an Altersschwäche. Genetisch können wir bis 130 Jahre alt werden. 

Leibphilosophische Denkweisen werden sich verstärkt mit dem Endlichkeitsbewußtsein befassen, aber nicht so, daß nur Angst und Zittern das Ergebnis ist und Flucht in die Thesen vom körperlosen Leben jenseits unseres Lebens als Physis. Vielmehr gilt es, dieses Leben hier, als leibliches so zu leben, daß es im Idealfall 130 Jahre wert ist gelebt zu werden. Dazu brauchen wir einen ungebrochene Heilenswillen in den Heilberufen.

Wer es als Heilberufler aufgibt zu heilen, wer resigniert angesichts politischer Ungereimtheiten und wirtschaftlicher Unsicherheiten verletzt den Lebenswillen erkrankter Menschen und mißbraucht ihr Vertrauen.

Vielmehr sollte der Wille zu heilen kreativ machen, Innovationen auf dem Gesundheitsmarkt erzeugen. Von diesem Markt erwarten sich Zukunftsforscher in den nächsten Konjukturwellen den größten Zuwachs.

Daß Ärzte und Ärztinnen resignieren, nicht mehr weiter machen wollen oder politisch aktiv werden, ist ein Indiz dafür daß da ein Heilwillen vorhanden ist.

Was ist der Wille zum Heilen? Früher wurde das Gesundmachenkönnen als eine nichtmenschliche göttliche Gabe angesehen. Wir sind aufgeklärt. Warum wollen Sie heilen? Warum wollen Sie helfen, daß Menschen gesund werden können?

Ich glaube, daß in dem Willen zum Heilen ein tiefes Ja zum Leben verborgen ist, ein Ja trotz alledem, ein Ja, das auch die 2500 Jahre leibverachtende Dressur überstanden hat. Um es etwas poetisch zu sagen: Es ist die Stimme der eigenen Natur die leben will und die sich freut, je schöner das Erleben sein kann auch mit anderen. Die Lebensbejahung selber ersehnt Heilkräfte, Heilwissen, Heilinstrumente.

Der Tod ist nicht dazu da, uns das Lebendigsein zu vermiesen, sondern im Gegenteil, wir können den Tod auch als Mahnung dazu nehmen, das Leben bewußt zu genießen. So wie bewußt Sterbende in einer der Sterbensphasen plötzlich sehr bewußt den Wert des Lebens erfahren können und sich freuen an allem, was sie als Lebendigsein erfahren. Manche haben dann den Eindruck, sie hätten vorher gar nicht voll gelebt.

Das nun ausgedehnt als bewußte Lebensbejahung während unseres normalen Erlebens wird erst möglich sein, wenn unsere Kultur überall diese bewußte Bejahung anregt, uns daran erinnert. Nicht nur als Nervenkitzel und Action, als Momente der Lebensintensität, sondern als eine lebensbegleitende ethische oder philosophische Grundhaltung der Welt und sich selbst gegenüber.

Bewußte Lebensbejahung auch angesichts von Tod, Elend, Krieg und all den Ängsten, die uns begegnen ist Teil einer Weltsicht, in der das leibliche Leben als Eigenwert angesehen wird, ohne den Tod und auch das Lebeneinschränkende  zu ignorieren. Es ist auch da, aber eben nicht nur.

Leibphilosophie kann dazu verhelfen, sensibler zu werden für die angenehmen Möglichkeiten dieser Welt, die wir leibhaftig erfahren können und erfahren wollen, auch wenn die schmerzhaften Seiten da sind .

Zum Schluß meine Vision zum Heilen im Dritten Jahrtausend.

Die technologischen Innovationen seit der Industrialisierung befinden sich im auslaufenden Informationszeitalter Sättigungszustand. Der Forschungsblick richtet sich nun auf das Subjekt der Erfindungen. Die Gestaltung der äußeren Welt geht nun in internationale Regelungen über. Der Globalisierung der Wirtschaft folgt auch die psychische Vernetzung der Menschen weltweit.

Durch gentechnologische Innovationen werden die Menschen ihr Körpersein in die individuelle Biographieplanung einbeziehen. Schwere Krankheiten und Erbkrankheiten werden schon vor Ausbruch behandelt, leichte Krankheiten werden als Körpersignale zu einer gesünderen Lebensweise dankbar akzeptiert. Die Heilberufe orientieren sich immer mehr auf prophylaktische Bereiche, weil die schweren akuten Fälle immer weniger werden. Körperpolitische Maßnahmen gewährleisten, daß Menschen ihr Höchstalter in guter selbstgewählter Verfassung erreichen können. Internationale Politik gewährleistet, daß so viel Wohlstand verteilt ist, daß immer weniger Menschen zu gewaltsamen Mittel greifen, um ihren Willen gut und gesund zu leben gegen andere durchsetzen zu müssen.

Sie werden nicht mehr wie heute, zu 95 % an Krankheiten sterben, sondern zu 95%  an natürlicher Altersschwäche.

Das individuelle Leben zwischen Geburt und Tod wird philosophisch von der Geburtlichkeit her positiv gesehen und nicht mehr nur als Leben zum Tode definiert.

Eine Philosophie der Geburtlichkeit, wie sie auch Hannah Arendt schon skizzierte, meint, daß wir unser in diese Weltgeborensein als Chance sehen, selber einen Anfang zu setzen, etwas Neues zu beginnen, ein Teil der Vielfalt menschlicher Natur zu sein. Daß wir Geborene sind, leibhaftig, aus dem Frauenleib geborene, nicht vom Himmel gefallene Geister, macht es, daß wir als Natur auch mit Natur glücklich sein könnten.

Eine schöne naive Utopie? Eine nicht zu verwirklichende Vision? Vielleicht, wer weiß.

Was ist die Funktion einer Vision, einer Utopie, eines Ideals oder modern ausgedrückt, einer kontrafaktischen Vorstellung?

Der Philosoph Kant hatte es folgendermaßen verdeutlicht: Es geht nicht darum, das Ideal oder die Vison vollständig zu verwirklichen. Das ist wahrscheinlich nicht möglich. Vielmehr geht es bei der Visionsbildung darum, sich ein Bild in die Zukunft zu projizieren, das unsere gegenwärtige Handlungsweise orientieren kann. Ohne ein Ziel in der Ferne, haben wir in der Nähe keine Orientierung. Wir brauchen nicht fundamentalistisch an diesem Ziel zu kleben, aber eines zu haben heißt, das gegenwärtige Leben nach einer regulativen Idee zu orientieren. Sich durch Ideen oder Visionen regulieren zu lassen, heißt nicht, ein phantastischer Idealist oder eine schwärmerische Idealistin zu sein und den Sinn für die Wirklichkeit zu verlieren. Vielmehr kann das, was man sich wünscht, aus dem Wissen der Gegenwart  in die Zukunftsvision potenziert werden, um das, was jetzt ist, mit lebensbejahender Kraft mit zu gestalten.

Ich habe heute Abend als Leibphilosophin zu Ihnen gesprochen. Aber ich sagte auch im Anfang, daß es eine untergründige leibphilosophische Tradition schon länger gibt. Die erste Leibphilosophin war die Ethikerin Sappho vor 2600 Jahren in Griechenland. Sie wird uns leider nur als Lyrikerin vermittelt, war aber eine aktive Philosophin. Sie wirkte schon 200 Jahre vor Sokrates in ihrer Akademie dafür, Lebensbejahung und persönliches Selbstbewußt der Welt gegenüber zu behaupten. Mit ihren auch gerade jetzt aktuellen Worten möchte ich meine Festrede an Sie beschließen.

„Einer sagt, Reiter sind schön,

ein anderer findet große Kriegsschiffe

oder marschierendes Fußvolk schön.

Ich aber nenne schön,

wonach einer sich sehnt.“