Philosophische Praxis
(Schwäbische Zeitung 14.04 04) erste Seite
"Ich helfe, die Gedanken zu sortieren"
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STUTTGART - Erkenne dich selbst - das ist keine leichte
Aufgabe, aber eine lohnende, sagt Annegret Stopczyk. Die promovierte
Philosophin hat in Stuttgart eine Philosophische Praxis eröffnet. Sie
berät Menschen, die vor schweren Entscheidungen stehen, und holt den
Elfenbeinturm der Erkenntnis zurück auf den Boden der Tatsachen. Von unserem Redakteur Christoph Häring Die Idee der Philosophischen Praxis ist so alt wie die Philosophie
selbst.Nur scheint sie in Vergessenheit geraten zu sein. Schon Sokrates
hat sich vor mehr als zweitausend Jahren auf den Marktplatz gestellt und
seine Mitmenschen mit bohrenden Fragen gelöchert. Und auch der große
Aufklärer Immanuel Kant, der vor zweihundert Jahren gestorben ist,
hatte keine |
Heute verlieren die Philosophen an den Hochschulen die Bodenhaftung, glaubt
die 53-Jährige. "Dort dreht sich die Philosophie nur noch im
Gelehrtenkreis und verkommt zur Universitätsleiche."
Da hat sich Stopczyk lieber Kant zum Vorbild genommen und in ihrer Wohnung ein
Zimmer für ratsuchende Gäste reserviert. "Morgen zum Beispiel kommt eine
Schülerin, die in Philosophie ihr Abitur macht. Sie möchte wissen, was sie in
der Prüfung alles erwarten kann." Nachhilfe in Sachen Philosophie - das
haben die Deutschen nach Meinung von Stopczyk bitter
nötig. Während in Frankreich, Österreich, Belgien, England, Italien und den
USA alle Schüler Philosophie pauken müssten, tue man in Deutschland das Thema
als Orchideenfach ab. Aber nicht nur Schüler finden den Weg in die Praxis von
Annegret Stopczyk, auch Menschen, die am Ende ihres Lebenswegs stehen, suchen
das Gespräch mit der Philosophin. "Der Umgang mit dem eigenen Tod ist
gerade für Männer und Frauen wichtig, die nichts mit Religion zu tun
haben." Stopczyk berichtet von Menschen, die ihre eigene Geschichte der
Familie hinterlassen möchten. Inklusive der gesammelten Lebensweisheiten.
"Ich
helfe, die Gedanken zu sortieren." Darin sieht die mit einem Physiker
verheiratete Philosophin ihre Hauptaufgabe: "Ich forsche mit den Menschen,
helfe ihnen, klar zu werden, erörtere das Für und Wider einer
Entscheidung." Bei ihr suchen Kranke nach Antworten auf die quälende
Frage: Warum gerade ich? Andere Besucher werden von Bildern und Träumen
verfolgt, deren Inhalt und Ursprung sie nicht deuten können. An ihre Grenzen stößt
Stopczyk, "wenn jemand glaubt, seine Probleme überhaupt nicht lösen zu können".
Dann lehnt sie die Beratung ab und rät zu einer psychiatrischen Behandlung.
Weit entfernt von einer Therapie sind die Kunden Stopczyks, die aus
wirtschaftlichen Gründen zu ihr kommen. "Zum Beispiel zwei Managerinnen,
die klären wollen, ob sie von ihren Wertvorstellungen her beruflich
zusammenpassen und im Team arbeiten können." Was in Deutschland auf der
Ebene der Wirtschaftsethik passiere, schauten sich die Unternehmen in den
USA und England ab. "Dort gibt es in vielen Firmen einen Verhaltenskodex,
den die Mitarbeiter bei Eintritt in das Unternehmen unterschreiben müssen",
sagt Stopczyk. Die Arbeitgeber wollen durch die festgelegten Umgangsformen
Mobbing-Eskapaden einen wirksamen Riegel vorschieben.
Scheitern an großen Idealen
Warum aber sollen gerade die als lebensfremd und alltagsuntauglich verschrieenen
Philosophen praktische Lebenstipps und unternehmerischen Rat geben können?
Stopczyk stellt sich gegen die Vorurteile: "Ich kann helfen, Entscheidungen
zu treffen, die der Ratsuchende riskieren kann. Die passen." Viele Menschen
hätten große Ideale, an denen sie aber im Alltag ständig scheiterten. Der
Frust gehe an Körper und Geist nicht spurlos vorbei. "Deshalb ist für
mich wichtig, wie sich die Entscheidungen und Ideale für den Betroffenen anfühlen."
Mache sich Unbehagen breit, empfiehlt die Mutter eines 22-jährigen Sohnes über
die eigene Messlatte nachzudenken und sie je nach dem niedriger oder vielleicht
aber auch höher
zu hängen. Im Gegensatz zu einem Psychologen gehe sie ohne Krankheitsmuster im
Kopf offen auf die Ratsuchenden zu. "Ich bewerte nicht, was und wie ein
Mensch sein will."
Die vor einem Jahr aus Berlin nach Süddeutschland gezogene Wahlstuttgarterin
hat die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen querbeet durch alle
gesellschaftlichen Schichten für philosophische Fragen interessieren. Sie
stehen damit in einer langen Tradition: Seit der Antike haben sich große Denker
das Hirn über das Woher und Wohin des Menschen
zerbrochen. Stopczyk empfiehlt zum Einstieg in das Fach Philosophen, die dem
Ratsuchenden in seinen Denkweisen ähnlich sind. "Lebt jemand zum
Beispiel einsam und spricht schlecht über die Menschen, versuche ich's mit
Arthur Schopenhauer." Der abgeklärte Denker sei ein sehr gutes Beispiel
dafür, dass der Mensch trotz aller Seelenpein und Mühsal nicht an der Welt
verzweifeln müsse. "Nicht zuletzt, weil die Philosophie Kraft und
Orientierung im Leben geben kann."