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Kant - ein
verkappter Leibphilosoph? Für das Kunstprojekt "Kant"
von Annegret Stopczyk
Normalerweise wird der Philosoph Immanuel Kant
(1724-1804) in Europa als Idealist eingeordnet, der mit seinen Prinzipien und
Ideen der Vernunft das profanere menschliche Leben kaum im Blick hätte. Bekannt
ist er für seine preußisch-deutsche Pünktlichkeit und alles das, was damit
verbunden wird: Pflicht, Disziplin, Gehorsam und Sinnenfeindlichkeit.
Nach heutigen Staatsgrenzen wäre er ein Russe, denn
er lebte und wirkte in der damalig ostpreußischen Handels- und Seestadt Königsberg,
heute Kaliningrad, eine Stadt, die er Zeit seines Lebens nicht verlassen hat. Er
mied die beschwerlichen Reisen mit der Kutsche über Stock und Stein, weil sein
Gesundheitszustand ihm keine Anstrengungen erlaubte. Aber an seinem geselligen
halböffentlichen Mittagstisch versammelten sich Kaufleute aus aller Welt, die
ihm von ihren Reisen berichteten. Er selber sah sich als Nachkomme schottischer
Vorfahren. Kant kam aus einer Handwerkerfamilie und
suchte tägliche Entspannung und weltweiten Wissensaustausch nicht mit
Buchgelehrten und Akademikern. Er blieb selbst als später Philosophieprofessor
dem ständischen Freiheits- und Bürgerbewußtsein der Handwerke und Kaufleute
verbunden und verstand sich als Republikaner auch unter Friedrich dem Großen
und Friedrich Wilhelm II.
Kant hielt seinen Tagesplan bis auf die Minute genau
ein, wobei sein Diener Lampe ihm half. Nur einmal soll er zwei Tage alle Zeit
vergessen haben, nämlich als er den Erziehungsroman Emile des französischen
Philosophen Jean-Jacques Rousseau las und darüber sogar seinen Mittagsschlaf
versäumte. Kant war bewegt von dem Zwiespalt zwischen der englischen
empiristischen Philosophie des David Hume und der idealistischen von Rousseau.
Ihm schwebte ein dritter Weg vor zwischen diesen beiden entgegengesetzten
Positionen in der sich neu formulierenden Ertenntnistheorie. Wenn Hume darlegte,
daß alles Denken aus der Sinnenerfahrung stamme und Rousseau im Glauben an Gott
seine denkerische Ruhe fand, dann wollte er genau die mittlere Stelle einnehmen,
eine Brücke schlagen zwischen England und Frankreich, zwischen Sinnlichkeit und
spekulativer Vernunft.
Diese Aufhebung des Streites zwischen Empirismus und
Rationalismus, oder Materialismus und Idealismus bestimmte das philosophische
Werk des Mannes, der eine Philosophie konstruierte, die noch bis heute die Gemüter
erregen kann.
Leider ist sie nicht leicht zu lesen. Kant schrieb
seine Hauptwerke in deutscher Sprache und nicht in der europaweit gebrauchten
Gelehrtensprache Latein oder in Französisch, wie es damals unter Gebildeten üblich
war. Er formulierte philosophische Begriffe in einer Volkssprache, die im
damaligen Europa als dumpf und bäuerlich galt und von der sich die gebildeten
Europäer keine Erweiterung ihres Geistes erwarteten. Mit deutschen Worten aber lateinischer Grammatik machte sich
Kant ans Werk und schuf ein riesiges Gedankengebäude, das neu beantworten
sollte, was das Menschensein
ausmacht. Dazu müsse geklärt werden, was Menschen wissen können, was sie tun
sollen und was sie hoffen dürfen. Er unterschied das Reich des Wissens von dem
des Glaubens, verband aber Beides im Bereich des Handelns. Denn wenn wir uns
entscheiden zum Handeln, müssen
wir es oft auch ohne vollständiges Wissen in gutem Glauben tun. Dieser Glaube
aber sollte nicht an einen Gott gebunden sein, sondern an unsere moralische
Vorstellung davon, was im Ideal ein Mensch sein sollte. Ideen vom Menschsein
geben uns Orientierung für unser Handeln untereinander und sollten unsere
ethische Dimension im Alltagsleben mitbestimmen. Der Glaube an die moralische
Entwicklungsfähigkeit menschlichen Handelns bestimmte sein ethisches Werk, das
auch politische Dimensionen in der Idee eines Völkerbundes und Weltfriedens
enthielt.
Wer sich in das kantische Werk eingelesen hat, wird
alles das nicht finden, was normalerweise mit ihm verbunden wird. Weder Gehorsam
gegen den König oder die Kirche prägte ihn, noch die Pflicht als
Fremdbestimmung und Aufopferung, auch keine Disziplin in seinen Gedanken, denn
immer wieder schweift er ab und gerät in neue ferne Fragestellungen, die uns
Heutigen aber sehr modern erscheinen können.
Nur pünktlich in seinem Lebensalltag mußte er sein,
denn wer mit einer derart zarten Körperkonstitution auf der Welt ist, muß die
Kunst erlernen, bewußt gesund zu leben, um wie Kant 80 Jahre alt zu werden. Er
ist in Königsberg berühmt gewesen wegen seiner Senfsoßen, die er selber angerührt
hat.
Aber wie steht es mit der Sinnenfeindlichkeit? Gilt
Kant nicht als der Vernunftphilosoph, der unsere Gefühle als minderwertige
Triebgrundlage ablehnte und dazu aufrief, sich nur auf die Mathematik in unserem
Wissenserwerb zu stützen? Hatten die deutschen Romantiker Recht, als sie ihn
den kalten Philosophen nannten?
Behauptet er nicht in seiner Ethik, daß wir unser
moralisches Verhalten nicht nach unserem Wohlbefinden orientieren dürfen,
sondern nur nach einem idealen Prinzip vom Menschsein, das rein theoretisch
erdacht ist? Der menschliche Leib
war für ihn genauso ein zu überwindendes Mangelobjekt wie für fast alle
Philosophen, davon wird normalerweise ausgegangen. Aber wer sich nicht nur in
das kantische Werk eingelesen hat, sondern auch noch die feineren Gedankengänge,
die unfertigen nur angedachten Gedankenanfänge aufmerksam wahrgenommen hat,
wird einen anderen Kant finden, einen, der sich an dem über 2000 Jahre alten Dualismus zwischen Geist und Körper stößt, der neu
erklären möchte, wie es sein kann, daß der Mensch doch Bürger dieser beiden
Welten ist und nicht nur der rein geistigen Welt. Wir sind keine Engel, keine
Tiere und doch beides zugleich.
Die Leibphilosophie ist etwas höchst Aktuelles, eine
neu entstehende Philosophie im Übergang ins dritte Jahrtausend. Wir wissen aus
der neueren Gehirnforschung, daß fühlen und denken nicht getrennte Tätigkeiten
im Gehirn sind, wir wissen, daß unser Körper sich psychosomatisch gegenüber
den eigenen Gedanken und der uns umgebenden Kultur verhalten kann. Wir wissen,
daß unsere Existenz als Mensch noch nicht zu Ende verstanden ist. Wir wissen in
der Informationsgesellschaft, daß wir mit jeder Antwort viele neue Fragen
aufbringen, daß wir mit jedem Wissen noch mehr nicht wissen. Trotzdem müssen
wir handeln, leben, uns jeden Tag entscheiden und dazu brauchen wir
Orientierung, am besten eine, die wir uns selber geben können, die wir nicht
bei Führern, Göttern oder nur bei Experten abholen. Unsere leibliche Dimension
kann hier einbezogen werden, das was wir Inuition nennen oder Weisheit.
Kant ging davon aus, daß auch unsere Gefühle so
differenziert sind wie unsere Gedanken und daß beide sich gegenseitig
beeinflussen. Diese Beeinflussung sei manchmal problematisch, wenn zum Beispiel
eine Leidenschaft uns abhängig macht von einer Begierde, einer Sucht. Aber das
Gefühl kann uns auch Orientierung geben für unser Handeln. So beschreibt er in
seiner Ethik das Gefühl der „Achtung“. Achtung ist ein „selbstgewirktes
Gefühl“. Eines, das uns mit unserem selbsterdachten Vernunftideal sinnlich
verbindet. Wenn ich einem Menschen begegne, der sich so verhält, daß ich das
Gefühl der Achtung empfinde, dann deshalb, weil ich diesen Menschen mit dem
Ideal vergleiche, das ich in mir selber vom moralisch idealen Menschsein trage.
Meine Sehnsucht von mir selber, wie ich als Mensch sein möchte, begegne ich in
einem anderen Menschen als Wirklichkeit. Das Gefühl der Achtung entsteht, weil
in diesem unwillkürlichen schnellen Vergleichen meines moralischen Wunsches
dieser andere Mensch mir ein Stück voraus ist, aber auch nahe gekommen ist. So
entstehen die besten Freundschaften. Gegenseitige Anerkennung und Hochachtung
bestimmt die moralisch einwandfreie Beziehung.
Die leibliche Dimension des Denkens, der Gefühle,
Wahrnehmungen und Empfindungen ist
im kantischen Denken nicht isoliert gesehen und abgespalten, wie in den meisten
Philosophien, sondern schon angedacht als gegenseitige Durchdringung und
Beeinflussungsmöglichkeit. Insofern wird er von mir als „verkappter
Leibphilosoph“ eingeschätzt, der zu Unrecht als idealistischer Philosoph
abgetan wird. Auch die Leibphilosophie sucht Brücken zwischen den Extremen und
damit eine neue Verknüpfung der Deutungen, wie wir als Menschen
sein sollten und sein könnten.
Ist an Kant also nichts zu kritisieren? Doch, es gibt
Einiges zu kritisieren. Zum Beispiel wenn er seine analytisch hergeleiteten
Begrifflichkeiten anwendet auf konkrete menschliche Lebensweisen. So stellt er
genauso wie fast alle Männer in der Philosophiegeschichte die Frau als
vernunftunfähiges Geschöpf dar, das nur verstandesgemäß agieren könne. Der
Verstand ist bei ihm jenes Denken, das die sinnliche Welt sortiert, während die
Vernunft mit Ideen beschäftigt ist, die die Welt der sinnlichen Erfahrung übersteigen.
Männer beschäftigen sich mit der Frage, ob das Universum unendlich sei oder
nicht und Frauen damit, wie sie einen Blumenstrauß hübsch stecken. Hier überstieg
Kant sicherlich nicht Kraft seines Vernunftvermögens die historische
Gegebenheit gesellschaftlicher Geschlechtsrollenzwänge und reagierte nur
verstandesgemäß auf das Leben von Männern und Frauen. Er war aber kein
Frauenverächter, sondern hat immer bedauert, daß er keine Frau fand, die ihn
geheiratet hätte. Zum idealen menschlichen Leben gehörte für ihn die Ehe
dazu.
Aber trotz seiner mangelnden Freiheit, manche konkret
menschliche Fragestellung erfahrungsüberschreitend zu bedenken, hat er eine
philosophische Arbeit geleistet, die noch immer zum Selberdenken und
Selberhandeln anregt.
Kant versuchte vor mehr als zweihundert Jahren ein
europäischer Denker mit regionalem Selbstbewußtsein zu sein und war damit
seiner Zeit weit voraus.