Vom Diesseits und Jenseits der Grenzen unserer Zeit ersteSeite
Vortrag
auf der Jahrestagung 2005 der Transaktionsanalytischen Gesellschaft Lindau
So habe ich mein Thema genannt, als ich über den
Titel Ihres Kongresses nachgedacht habe und Gudrun Hennig mich eingeladen hat,
dazu etwas von meiner philosophischen Arbeit her zu sagen. Ich hatte eine
Ahnung, was ich sagen würde, aber ich wagte es, keine genaue Vorstellung zu
haben, als ich den Titel und Kurztext zu diesem Vortrag formulierte. Erst beim
Durchdenken und schreiben dieses Vortrages wurde mir deutlicher, wozu mich Ihr
Kongressthema inspiriert hat. Und das war spannend für mich.
Ihr Kongress-Thema lautet "Grenzen unserer Zeit
und Grenzen in unserer Zeit."
Es erinnert mich an einen Satz von Ludwig
Wittgenstein: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner
Welt".
Und wenn ich für "meine Welt" den Begriff
"unsere Zeit" einsetze, und für "Sprache"
"Denken", dann hieße der umgewandelte Satz: "Die Grenzen unseres
Denkens bedeuten die Grenzen unserer Zeit." Indem ich denke und formuliere,
befinde ich mich in den Grenzen unserer Zeit. Um aber unsere Zeit sozusagen von
außerhalb zu überblicken, müßte ich das Jenseits dieser Grenzen vom
Diesseits unterscheiden können.
Ich müßte so denken, wie es in unserer Sprache
nicht vorkommt und ich müßte immer wissen, wann ich sozusagen jenseitig
formuliere und wann in unserer Zeit.
Ist das nur schwierig oder ist es unmöglich?
Indem ich eine bestimmte Sprache spreche, denke ich
auch nach bestimmten logischen Formen. Ich bin in eine bestimmte Sprachwelt
hineingeboren, in eine bestimmte Kultur, Familie, Teil einer bestimmten
lebendigen Gattung in der Natur auf der Erde, herumfliegend in einem Weltall,
das ich in der Gänze gar nicht begreifen kann, wenn auch es viele Erklärungen
gibt aus den naturwissenschaftlichen, religiösen, philosophischen und auch
psychologischen Sprachsystemen unserer verschiedenen Kulturen.
Das Schwierige beim Denken ist, daß diese jeweiligen
umfassenden Erklärungsweisen oft hermetisch abgeschlossene Bedeutungssysteme
sind. Von einem Erklärungsmodell her
wird etwas beurteilt, was von einem anderen
Erklärungsmodell her wieder anders beurteilt werden würde. Die Erklärungsmodelle
selber grenzen unser Erkennen in bestimmter Weise ein, aber ganz ohne sie ist es
schwierig, überhaupt Zusammenhänge zwischen verschiedenen Einzelheiten
herzustellen. Da befindet man sich sozusagen im Spagat zwischen den Grenzen
eines in sich geschlossenen Erklärungssystems und dem Fall ins Unendliche,
Unbegrenzte. Dieses Spannungsverhältnis bleibt immer bestehen beim Versuch,
etwas Neues zu denken, etwas, was bisher nur rudimentär formuliert worden ist.
Als Kind hinterm Haus liegend auf einer Wiese und
schauend in den Himmel habe ich oft diese unendlichen ineinandergeschränkten
Welten irgendwie erfahren, nicht mal gedacht, keine Sprache dafür gefunden,
kein Bild. Keine Grenzen schienen da zu sein, alles in einem unendlichen Regress
ineinander verschränkt und umformend. Und ich immer kurz vorm davonfliegen,
mich darin auflösend. Später nannte ich es "eine unendliche
Sehnsucht" haben, ich fand sie bei einigen Frühromantikerinnen und Frühromantikern
wieder, dann auch bei Wittgenstein, bei dem dann hier das Schweigen beginnt, das
nicht nichts ist, sondern unendlich angefüllt und dann bei Fritz Mauthner, dem
Sprachphilosophen der schweigenden Mystik und seinem Schüler Gustav Landauer;
im Philosophiestudium dann auch bei Spinoza in seinem Begriff der "aktualen
Unendlichkeit". Das heißt in der gerade erlebten Unbegrenztheit und dem
Empfinden der Zeitlosigkeit. Bei Freud vielleicht ähnlich mit dem ozeanischen
Gefühl. Bei Einstein fand ich Überlegungen zur endlichen und doch nicht
begrenzten Welt. Solche logischen oder unlogischen Denk- und Wortungetüme haben
mich lange begleitet, weil sie etwas in Sprache zu bringen versuchen, was noch
keine Sprache hat, was nicht in unserer Zeit ist und auch nicht unsere Zeit
bedeutet. Etwas Jenseits unserer Zeit. Die Grenzen der Sprache sind es dann oft,
gegen die man anrennt, oder wie Wittgenstein sagt: Wir holen uns beim Denken
Beulen an den Kopf.
Ich habe mir so manche Beule geholt, weil ich nicht
akzeptieren wollte, daß das mystische Schweigen die beste Ausdrucksform davon wäre.
Wittgenstein stellt klar: "Was wir nicht denken
können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen,
was wir nicht denken können."
Hier widerspreche ich ihm. Was ist Denken? Ist es
wirklich nur ein leises Sprechen, ist es mit Sprache identisch? Wir wissen aus
der neueren Gehirnforschung, daß es den reinen Denkprozeß unabhängig von Gefühlen
gar nicht gibt, so auch nicht den reinen Sprachprozeß aus Worten. Immer ist das
sprachliche Denken auch von Intensitäten begleitet, die in irgendeiner anderen
Gehirnregion meßbar sind. Was ich "Intensitäten" nenne, können
bejahende und verneinende Empfindungen sein, Intensionen oder Willenskräfte,
die in anderen Gehirnregionen als denen des Sprachzentrums beim Sprechen zusätzlich
aktiv sind.
Das heißt: Wir können vielleicht nicht sagen, was
wir nicht denken können, aber wir können spüren, was wir noch nicht denken
oder sprechen können. Eine scharfe Grenze zwischen denken und fühlen oder spüren
gibt es aber faktisch auch nicht, es ist eine theoretische Grenzziehung zur
Bequemlichkeit der Analyse, eine idealtypische Labormethode. Aber es hat wenig
damit zu tun, wie wir faktisch denkend sind.
Vielleicht kennen Sie diese Momente, wenn Sie einen
Zusammenhang von dem was Sie erfahren begreifen, ohne genauer sagen zu können,
was es ist. Dennoch Sie wissen es.
Und wenn andere Menschen dann das Erfahrene erklären
und interpretieren, wissen Sie, daß es nicht das ist, was Sie meinen, aber Sie
können es nicht sagen, in Sprache bringen. Die Worte kommen Ihnen undeutlich
vor und nur ungefähr. Das sind eigentlich die philosophischen Momente im Leben.
Hier kommt Sprachstutzigkeit auf, hier geschieht etwas, was im Geschehen
eindrucksvoller ist als beim Sprechen über das Geschehen. Die größte Kunst wäre,
im Geschehen zur Sprache zu können. Denkend sprechen. Bei den meisten
verschwinden diese philosophischen Anwandlungen von Zusammenhangsahnungen
so plötzlich wie sie entstehen, bei einigen bleiben sie wie nagende
Fragen im Hintergrund und kommen immer wieder hervor, wenn wir etwas tun, was
ganz eigen ist, was kreativ ist, was möglicherweise vorher noch niemand so
gemacht hat, gedacht hat.
Es hat etwas mit dem Wunsch zu tun, die Welt zu
erkennen, in der wir leben, sozusagen einen Blick von außen auf das zu
erhaschen was wir selber sind, worin wir sind. Nicht immer nur in unserer Zeit
verhaftet zu sein, sondern woanders zu sein, an einem Un- ort, U-Topos, U-Topie.
Ich habe als Kind meinen Vater immer gefragt:
"Papa, gibt es noch eine andere Welt, als das hier?" Ja, andere
Planeten. Oder ja: Himmel und Hölle. Oder ja: erfundene Welten. Er war ein Pole
und stolz auf die polnischen Siencefictiontradition. Die Polen hätten schon im
Mittelalter den ersten Siencensfictionroman von einer Mondlandung geschrieben.
Er wußte nicht genau, was ich meinte und gab jedes Mal eine andere Antwort,
weil ich immer sagte: "Nein, das meinte ich nicht".
Die philosophische Schriftstellerin Clarice Lispector
kam dem näher, was ich meinte. Sie schrieb in ihrem Roman Passion nach G.H., wo
es darum geht, sich in das Leben einer Kakerlake hineinzudenken und diese an
sich selbst zu verstehen, etwas, von dem Kant sagen würde, das geht nicht -
also sie schreibt: "Ich will den Stoff, aus dem die Dinge gemacht sind. Die
Menschheit erschöpft sich darin, sich zu vermenschlichen, als wäre es eine
Notwendigkeit. Und diese falsche Vermenschlichung verhindert den Menschen und
verhindert auch seine Menschlichkeit. Es gibt etwas, das umfassender ist,
dumpfer, tiefer, weniger gut, weniger verwerflich, weniger schön.
Obwohl auch diese Etwas Gefahr läuft, sich in
unseren groben Händen in "Reinheit" zu verwandeln, in unseren Händen,
die grob und voller Worte sind. "(170)
Es geht um eine Art Welterkenntnis, um eine andere
Art unsere Welt zu erkennen als die, nur ein Sprachsystem dafür zu erschaffen.
Alles das, was bisher gesagt wird, befriedigt nicht, ist nicht das, was
innerlich schon irgendwie gewußt wird, geahnt wird, erfahren wird.
Es ist wie beim Gedicht schreiben. Sie wissen ganz
genau, wenn das richtige Wort da steht und streichen all die falschen sofort
wieder, nachdem sie sie hingeschrieben haben. Irgendeine innere Instanz in Ihnen
weiß genau, was da richtig und falsch ist. Gene Gendlin, der Entwickler der
Focusingmethode nennt das "Feltsense", den Gefühlssinn. Andere nennen
es Intuition.
Aber war es das, was ich meinte? Er meint mehr das, womit
ich etwas erkenne. Ich meine mehr das, was und wie dann anders erkannt
werden könnte. Was gibt es noch anderes zu erkennen in unserer Zeit, in unserer
Welt, oder in einer anderen Welt jenseits der Grenzen unserer Welt und wie komm
ich dahin?
Die philosophische Sprache ist oft undeutlich,
manchmal unverständlich. Leider wird oftmals damit ein ziemlich trivialer
Inhalt verdeckt, aber manchmal auch nicht. Manchmal läßt sich nur schwer ausdrücken,
was jemand ganz eigen erkennt. Es gibt dafür keine Sprachmuster. Es werden dann
Begriffe definiert und systemsprachlich verwendet. Das hat dann mit unserer
Alltagssprache wenig zu tun und befriedigt beim Lesen nur wenige Fachleute.
In Deutschland gilt oft: Was ich nicht verstehe, ist
tief. Was ich verstehe, das kann nicht viel sein. So wie mit dem Geld. Was wenig
kostet, kann nicht viel Wert haben. Nur wofür ich viel bezahle, das ist
kostbar.
Und psychisch übersetzt: Wofür ich leide, das hat
Wert. Was mir leicht fällt, das kann nichts Besonderes sein. In meiner
Philosophischen Praxis kommt es vor, daß das, was jemandem leicht fällt, nicht
hoch geschätzt wird. Eigene Begabung wird verkannt. Das, wofür man sich abmüht,
gilt erst als Arbeit.
Die Sache selbst kommt kaum in den Blick, ist abhängig
von den Statussymbolen unserer Zeit, Sprache, Kultur.
"Ich will den Stoff, aus dem die Dinge gemacht
sind" schreibt Clarice Lispector. Das ist der Wunsch, jenseits der Grenzen
der Dinge, wie wir sie gewohnt sind, die Welt zu begreifen, weil wir ahnen,
irgendwie ist das alles vielleicht noch anders.. Es könnte noch etwas geben,
was auch wirklich ist, aber noch unbemerkt.
Clarice Lispector, Wittgenstein, Landauer, Mauthner
und Einstein: sie gelten in ihren letzten Fragen als Mystiker und schon ist ein
Wort da, das vorgibt, das alles zu verstehen und einzuordnen. Sie haben sich
sogar selbst als Mystikerinnen und Mystiker bezeichnen lassen. Aber das ist es
nicht, was ich meinte. Ich glaube, es ist sehr einfach, leicht verständlich und
kostet nicht viel.
Ich suche nichts Mystisches, nichts Geheimnisvolles,
keinen Gott und keine Göttin, kein Geheimnis, sondern so etwas Normales, wie
das , was ich in der Kindheit mit meiner Frage meinte.
In der Psychologie wird der unsprachliche Bereich oft
das Unbewußte genannt. Es ist den Erklärungen von außen schwer zugänglich
und soll durch Bewußtwerdung immer weniger werden. Das meinte ich auch nicht.
Wenn ich als Kind diese Frage stellte nach der
Existenzweise der Welt und ob es noch andere gäbe, dann gab es gleichzeitig in
mir ein Gespür dafür, daß so, wie mir die Welt bisher erklärt wurde, die
Welt vielleicht doch nicht ganz ist. Es kann mir z.B. niemand erklären, wie der
Duft einer Rose riecht, wenn ich diesen nicht selber einmal gerochen habe. Keine
Wortsprache kann hier den direkten Zugang ermöglichen.
Und wenn ich in die Wolken sah und meine Augen mal
ein bischen zukniff, sahen sie ganz anders aus als wenn ich sie weit öffnete
und mein Inneres zu ihnen hinzufließen schien. Je nachdem, wie ich etwas mit
den Augen machte, so spürte ich mich in der Welt. Auch wenn ich einen Baum
ansah, das Laub, dann war der normale Blick, wie die verschiedenfarbig grüngelbenbraunvioletten
Blätter ineinander flimmerten. Aber wenn ich die Augen halbgeschlossen hielt,
waren dunkle oder helle Schatten im Laub zu sehen, die sich selbständig
bewegten, als ob sie eigene Wesen wären.
Mein Frage lautete eigentlich, ob es noch eine andere
Welt in derselben Welt gibt, die manchmal durchscheint und manchmal nicht.
Ich konnte die Welt verschieden sehen, je nachdem,
wie ich mich dazu einstellte. Mehreres konnte zugleich richtig sein und das
beunruhigte mich nicht.
Die Grenzen der gerade verstandenen Welt veränderten
sich sofort zu neuen Formen oder verschwanden, wenn eine Frage oder auftaucht,
die dort nicht hineinpaßt. Manche Menschen reagieren auf solche Entgrenzungen
panisch, sie wehren ab und verteidigen ihre Sichtweise, als sei es die einzig mögliche.
Für mich war das erstaunlich, denn ich glaube eigentlich von Kindheit an, daß
man die Welt verschiedenartig sehen kann und daß Grenzen immer nur vorläufig
sind, veränderbar, gar nicht wirklich stabil.
Dieses Thema hat meine philosophische Arbeit später
begleitet. Denn in der Begriffsbildung geht es darum, einen Begriff von einem
anderen genau abzugrenzen und Unterschiede in der Welt durch Begriffe sprachlich
zu erklären.
So gibt es viele Begriffe, die genau etwas
voneinander abgrenzen sollen. Die Materie soll etwas ganz anderes sein als der
Geist, oder der Körper etwas ganz anderes als die Seele und ich wer ganz anderes als der andere mir gegenüber.
Unsere Zeit oder unsere Welt ist voller dualistischer
Spracherklärungen. Entweder es ist Licht oder Dunkel, entweder es ist etwas
klug oder dumm, teuer oder billig, theoretisch oder praktisch, verborgen oder
bewußt, männlich oder weiblich.
Das ist das, was Clarice Lispector unsere groben Hände
nennt, das, was dann auch noch voller Worte ist.
Ich denke, wir leben in einer Zeit, in der wir gegen
viele Begrenzungen unseres Denkens und Erklärens anstossen, aber wir glauben
zumeist noch, daß es eine vorüber gehende Störung ist, alles therapierbar und
wieder einordbar. So suggerieren es uns viele Erklärungssysteme, auf die wir in
Wissenschaft und beruflicher Praxis stolz sind. Aber je mehr wir Wissenschaft
treiben und je mehr wir in der Praxis Erfahrung sammeln, desto mehr verschwimmen
die eindeutig begrenzten Begriffe und Erklärungssysteme.
Zwischen Materie und Geist verschwindet der
Unterschied im Begriff der wandelbaren Energie. Die Unterscheidung von Seele und
Körper wird immer undeutlicher, je mehr wir das faktische Erleben erfahren. Was
zuerst nur ein sprachliches Glaubensmuster war, wird über die Intensität des
Glaubens daran zu einer leiblich gespürten inneren Wirklichkeit, das kann dann
weiter gehen bis in körperliche Symptome. Hier vermischen sich sprachliche mit
körperlichen Zuständen.
Unser Denken, unsere Kultur, unsere Zeit ist voller
Bemühungen, Grenzen einzuhalten, Dualismen zu erklären, aber immer mehr spüren
wir die Auflösungen davon. Und damit umzugehen ist ungewohnt. Neue Begriffe
versuchen diesen Prozeß in Worte zu fassen, Globalisierung, Ganzheitlichkeit,
Einheit, Gegenseitigkeit, Gleichheit. Diese Begriffe aber sind wieder nur
dualistische Gegenbegriffe gegen Nationalstaatlichkeit, Spezialistentum,
Separatismus, Einseitigkeit und Unterschiedlichkeit.
Unser Sprachverhalten kann vielleicht gar nicht
heraus aus dieser dualisierenden abgrenzenden Sprache, weil die Sprache eben
grammatisch so konstruiert. Wittgenstein sagte, es ist, wie wenn die Fliege im
Fliegenglas nicht heraus kann, sie stößt immer an eine durchsichtige gläserne
Grenze .
Wenn wir unser Denken also nur als Sprachverhalten
interpretieren, dann sehen wir uns als die Fliegen im Fliegenglas.
Wir brauchen, um die Komplexität und
Ineinandergeflochtenheit unserer Welten zu erkennen, flexiblere
Erkenntnisweisen, als die, die wir gewohnt sind und erlernt haben. Wir müssen
unsere Erkenntnisformen vermehren.
Wie, werden Einige fragen: Ist es möglich,
Erkenntnisweisen zu erfinden? Gibt es nicht klar erforschte Zusammenhänge darüber
wie wir erkennen und was die Grenzen unserer Erkenntnisvermögen sind? Kant hat
dazu sein großes Werk geschrieben und die Gehirnforschung leistet Weiteres.
Aber da würde ich wieder wie als Kind sagen: Das
stimmt zwar irgendwie auch, das aber meinte ich nicht.
Auch das Vernunftvermögen, die Fähigkeit, in
rationalen und ideenhaften Formen zu denken, ist irgendwann einmal erfunden und
dann kultiviert worden. Es sind eingeübte Formen des kognitiven Erkennens und
nicht in jeder Kultur üblich.
Das Wort "Vernunft" und auch
"Geist" wurde in der sokratischen Zeit vor etwa 2500 Jahren von
Philosophen erfunden, um etwas zu bezeichnen, das sie innerlich spürten, wenn
sie Macht haben wollten über die Regungen ihres Körpers. In den
Sokratesdialogen des Plato ist das wunderbar nachvollziehbar. Der Ärger, von
Hunger, Sexgelüsten, Durst und Todesängsten geplagt zu sein, wurde so groß,
weil dadurch die Männer sich schwer beherrcshen konnten für die Ziele der
Polis. Sie sind schwer regierbar und nicht in einem Kriegsheer als einheitliche
Phalanx instrumentalisierbar. Es wurden affektlose Menschen gebraucht, die auf
Befehl gehorchen konnten. Ein Befehl ist ein rein sprachliches Werkzeug, kein körperlicher
Zwang. In dieser antiken Kriegergesellschaft entstand die europäische
Philosophie, das was wir unsere abendländische Kultur nennen. Die Kriegslogik
ist auf Antagonismen und Dualismen aufgebaut. Der Fremde ist die neagtive zu
vernichtende Begrenzung des Eigenen.
Vernunft galt als Rettung aus der affektiven Not. Es
wurde als eine innere Instanz behauptet, die stark würde, wenn sie nur recht
viel gebraucht würde. Die Vorstellung vom Ich und autonomen Individuum war
entstanden. Die Kultivierung von Schreiben und Lesen der Sprache erzeugte im
Gehirn das sogenannte Sprachzentrum, und es wird noch heute so erzeugt. Wer
nicht lesen und schreiben lernt und das nicht ständig tut, hat über Worte und
Sprache wenig Einflußmöglichkeit auf die eigene Erlebenswelt. Auch andere können
dann über sprachliche oder kognitive Denkformen keinen nachhaltigen Eindruck
hinterlassen.
Die Sprache hat dann nicht jene Mächtigkeit, die der
Fliege ins Fliegenglas verhilft.
Also die Vernunft ist eine Erfindung und kann durch
eingeübtes Verhalten als kontrollierende Ich-Instanz im inneren Menschen
wirksam sein. Dann sieht ein vernunftorientierter Mensch die Welt vernünftig an
und die Welt wird auch vernünftig erklärbar. Das hat schon Hegel für das
Nonplusultra gehalten.
Aber ist es nicht so wie das Phänomen in dem
Sprichwort: "Wie du in den Wald hineinrufst, so schallt es auch
heraus?".
Um das Mehrere als zugleich erkennen zu können,
brauchen wir vielleicht auch mehrere Erkenntnisformen in gleichzeitiger oder
variabler und gleichwertiger Tätigkeit.
Bisher galt die Vernunfterkenntnis in unserer Kultur
als die beste und erstrebenswerteste und diese wird durch schreibende, lesende
und formalisierende Sprachsysteme eingeübt, wenn man auch an die Mathematik
dazu nimmt.
Das ist nicht falsch, aber es begrenzt unsere
Welterkenntnis, es begrenzt unnötig wo wir mehr verstehen müßten. Kant sagte,
über diese Grenze kommen wir nicht hinaus, da stoßen wir an, da ist Schluß
mit Erkenntnis. Jenseits der Vernunfterkenntnis ist Chaos.
Diese Art, philosophisch unsere kultivierte
Erkenntisweise als anthropologisch festgelegte Grenze zu beschreiben und keine
andere als gleichberechtigt Möglichkeit zuzulassen, wäre so, als würde ich
als Kind mir eines Tages nicht mehr erlaubt haben, meine Augen umzustellen, um
anderes zu sehen als vorher. Ich hätte mir dieses Spiel verbieten müssen. Oder
meine Eltern hätten das tun müssen, aber sie taten es nicht, weil ich ihnen
davon nicht erzählte. Es war meine eigene Welt. Hier hat also kein Elternich
diese kindliche Erfahrungswelt dominiert. Und vielleicht glücklicherweise waren
sie keine Intellektuellen, die alles in Sprachkonstruktionen erklärten.
Diese Seite in mir konnte sich also ungetrübt
entwickeln und begleitet mich konstruktiv bis heute.
Lange Zeit blieb es aber nur ein unsprachlich tätiges
Perspektivwechselbäumchen in mir, ich wußte lange nicht, wofür ich das
gebrauchen sollte. Es war ein Spiel, ein Experiment, einmal auch etwas ganz
anders zu sehen. Eine Erkenntniswechselmethode, die als Können da ist, aber
ohne Anwendungsmöglichkeit für die ernsthaften Dinge im Leben.
In der Therapie gibt es natürlich inzwischen
Methoden zum Perspektivwechsel, so auch bei Ihnen sicherlich die verschiedenen
Stühle mit den verschiedenen Ich-Zuständen, auf die ein Klient oder eine
Klientin sich je nach Erkenntniswunsch setzen kann und probieren kann, ob diese
noch unerkannte aber andere Perspektive innerlich erfahren werden kann.
Wir kennen die verblüffenden Erfahrungen bei den
Familienaufstellungen, die leider immer noch ziemlich mystizistisch erklärt
werden. Da denke ich dann auch: Ja, es stimmt auch etwas, aber das meinte ich
nicht.
Erst als ich die Gedanken und Sehnsüchte der Frühromantikerinnen
und-romantiker gelesen hatte, spürte ich eine Resonanz zu meinen kindlichen
Weltfragen.
Die Frühromantikerinnen und Frühromantiker um 1800
wollten sich nicht nur in den Sprachschranken der Vernunft bewegen, so wie
damalige Aufklärer es erklärten und wie sich dieses Denken zu kultivieren
begann. Denken und Fühlen wurde scharf getrennt, wobei das Denken dem Fühlen
vorgezogen wurde. Sollte Sprache wirklich mit Gefühlen nichts zu tun haben?
Das kann nicht sein, meinten sie. In der Genietheorie
von Herder ging es darum, die Kunst anzuregen, mit Sprache Gefühle zu erzeugen.
Wenn aber Sprache Gefühle erzeugen kann, sogar solche, daß die Leute sich
umbringen, wenn sie den Werther von Goethe gelesen haben, dann ist es falsch,
wie Kant es vorschlug, Sprache als reines Vernunftvermögen jenseits der
Empfindungen zu verstehen. Das Vernunftvermögen selber ist nach Herder nicht
durch Sprache und Mathematik begrenzt, es hat auch Wirkungsmöglichkeit im
Bereich der Gefühlserzeugung und Handlungsweise.
Hierbei werden die Gefühle nicht mehr als
animalische Affekte des Hungers, des Sextriebes und des Durstes interpretiert,
sondern als vernunftanteilig. Sie argumentierten gegen den theoretischen
Dualismus zwischen denken und fühlen an und schufen eine gefühlsnähere
Sprache. Auf uns heutig Rationalisiertere klingen diese Sprachkonstrukte
kitschig, übertrieben pathetisch und schwülstig. Kaum jemand läßt sich davon
entsprechende Gefühle erzeugen. Es sei denn, diese Literatur fällt einem in
der Pubertät in die Hände und die Geschichte darin spiegelt eigene Erlebnisse
wieder.
In dieser frühromantischen Bewegung ging es darum,
die Grenzen dessen zu sprengen, was damals als das richtige aufklärerische
Erkennen und Denken zu gelten begann. Noch ging es nicht darum, einen Gott zu
finden, das war erst in der Spätromantik üblich. In der Frühromantik wurde
die Erkenntnissehnsucht selber zum Thema und philosophisch zur Sprache gebracht
oder auch in Bilder gemalt, in Musikstücken ausgedrückt und in literatische
Poesie übertragen.
"Philosophieren ist die Sehnsucht nach sich
selbst" schrieb Novalis. Das, was ich meine und was noch unsprachlich gewiß
ist, soll durch philosophieren offenbar werden. Das also, was ein Kind z.B.
fragt und nie beantwortet bekommt, darf endlich auch im Erwachsenenalter als
Philosophieren zum Thema werden. Die Trennung zwischen einem abgeschlossen
Kindich, das sich nach Antwort sehnt und einem Erwachsenenich, das sich von
diesem Fragen abgrenzt, wurde nicht akzeptiert. Auch andere Abgrenzungen wurden
nicht akzeptiert. Die zwischen Mann und Frau. Das Freundschaftsideal wurde höher
gewertet als die sexuelle Unterschiedlichkeit. Das hat dann noch der letzte Frühromantiker,
nämlich Nietzsche, so gesehen.
Weiter schreibt Novalis: "Die Philosophie ist
eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein."
Überall zu Hause sein, auch dort, wo die anderen
sagen, das ist Fremde, das gibt es nicht, das ist falsch.
Hannah Arendt verneinte diese Sehnsucht.
Philosophieren führe niemals dazu, irgendwo beheimatet zu sein, es stelle einen
immer außerhalb der eigenen Zeitgrenzen. Es sei eine vergebliche Sehnsucht,
durch Denken vertrauter zu werden mit allem. Dies zeigt natürlich auch, was
Hannah Arendt unter denken und Geisttätigkeit verstand. Es war ein
Distanzierungsprozeß von dem was vorgefunden wird. Der alte sokratische
Vernunftbegriff.
Novalis aber sehnt sich nach einem neuen
Erkenntnissinn, der die Vernunft nicht ablehnt, aber diese erweitert. Er gab
diesem Sinn einen Namen: Leibsinn. Es ist jener Erkenntnissinn, mit dem wir so
wahrnehmen und erkennen, daß wir uns verbundener mit den verschiedenen
Weltwirklichkeiten erfahren können. Verbundener, und auch entgrenzter,
vermischter, integrierter, beheimateter in der Welt.
Es ist ein anderer Erkenntniszustand als der des bloß
Vernünftigen. Es muß wie früher das Vernunftvermögen erdichtet werden,
erfunden, um dann kultiviert zu werden.
Im Vernunftsinn geht es darum, die sinnlichen Einflüsse
abzugrenzen, abzuspalten und nicht mehr zu erleben, aber in der neuen
Erkenntnisform des Leibsinns geht es darum, sich selber als leibliches
Naturwesen innerhalb der Natur zu erkennen und mehr Sensibilität zu entwickeln
für die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt. Dafür sollten alle unsere Sinne
und auch die Sinne, die wir noch nicht kennen verfeinert werden. Er schreibt:
"Vermehrung der Sinne und Ausbildung der Sinne gehört mit zur Hauptaufgabe
der Verbesserung des Menschengeschlechts...es kommt nur vorzüglich auf
Vermehrung und Bildung der Sensibilität an." Mit Sinn oder Sinnlichkeit
waren nicht nur die fünf körperlichen Sinne, sehen, riechen schmecken tasten
und hören gemeint, sondern sozusagen alle inneren Möglichkeiten, in bestimmten
Sinnerfahrungszuständen zu sein. Dazu gehört auch der Vernunftsinn, der Gefühlssinn,
der Ich-sinn. So wie auch in der heutigen Psychologie von bestimmten inneren
Zuständen als Befindlichkeitsweisen gesprochen wird.
In so einem senisibilisierten Zustand können mehrere
Sinne gleichzeitig tätig sein und somit auch Mehreres zugleich erkennen. Die
Welt wird komplexer erkennbar, die Menschen in gewisser Weise natürlicher, weil
sie ebenfalls komplexer in ihrer Intelligenz werden. Die Natur inspiriert in
ihrer mannigfaltigen Wirkungsweise uns selber. So glaubte er, könnte eines
Tages der Mensch sich mit der Natur, die er auch selber ist, vereinigen und ein
Leib sein mit ihr. Er dichtet:
Wer hat des irdischen Leibes
Hohen Sinn erraten?
Wer kann sagen,
daß er das Blut versteht?
Einst ist alles Leib,
ein Leib.
Mit diesem letzten Satz: Einst ist alles Leib, ein
Leib, hat Novalis versucht, die Grenzen seiner Zeit, unserer Zeit zu verlassen,
in eine Zukunft zu schauen, in ein Jenseits, in der wir intelligenter wären als
jetzt, in der wir sensibler wären und mehr von der Natur und uns selber verstünden,
als wir uns in unserer Zeit vorstellen können.
Das macht diese frühromantische Sehnsucht aus, die
in der nachfolgenden Rezeption oft mißverstanden wurde. Hannah Arendt
interpretiert hier die Wurzeln des deutschen Idealismus als ewige Sehnsucht nach
Heimat, weil die deutschen Intellektuellen ständig vertrieben und nicht im
eigenen Lande anerkannt wurden. Es wird romantische Sehnsucht als Escapismus
interpretiert, als Flucht vor den harten Realitäten eines Lebens in einem Staat
jenseits der französischen Revolution.
Aber in der Zeit um 1800 und davor geht es in
Deutschland noch um andere Themen als in Frankreich. Die Sehnsucht nach sich
selbst, nach dem Ausdruck dessen, was wir meinen, wenn wir etwas erkennen, was
unsere eigene Sichtweise ist, hatte hier keine politische Wurzel, sondern war
eine Antwort auf die Philosophie und Literatur der deutschen Aufklärung, die
durch Friedrich den Großen unterstützt wurde.
Das Eigene, das Individuelle und zugleich das
Erfahren und Spüren von unbekannten Wirklichkeiten in sich selbst und außerhalb
von sich, war Thema. Ein beeindruckendes Beispiel finden wir im Briefwechsel von
Bettina von Arnim und ihrer fünf Jahre älteren Freundin Karoline von Günderode.
Es war den Frühromantikerinnen wie allen Frühromantikern
klar, daß sogar auch eine Religion, ein Gott erfunden werden kann. Auch hier gäbe
es keine ewig feststehende
Wahrheitsgrenze. Bettina von Arnim fühlte sich in ihrer Jugend zu einer
Religionsstifterin berufen, ebenso wie Nietzsche beim Schreiben des Zarathustra
nicht wußte, ob er ein Religionsstifter sei, ein Schriftsteller oder ein
Philosoph, ein Wahrheitserfinder. Es ging darum eine neue Erkenntnisweise in
symbolische Form zu bringen, die sprachlich funktioniert.
Bettina von Arnims Empfindung, in der Natur angesicht
von Bergen und Wolken, und ihre erlebende Auflösung darin interpretierte sie
nicht als neue Naturmystik, sondern sie schrieb davon, selber göttlich geworden
zu sein, etwas damit zu können, zu erfahren, was bisher menschenunmöglich war,
jedenfalls noch nicht beschrieben worden war. Dieses Vermischtsein in mehreren
Wahrnehmungen gleichzeitig, wodurch sich dann die Eigenwahrnehmung neu
konstelliert, gab ihr das gefühl, eine einzigartige Aufgabe in dieser Welt zu
haben. Sie sah die Welt nicht so, wie sie es als normal erlernt hatte. Ihrer
Freundin schrieb sie: "Ich begreif´s nicht, alle Menschen sind anders als
wie es so leicht wäre zu sein ...Lasse uns doch eine Religion stiften, ich und
Du, und lasse uns einstweilen Priester und Laise darin sein, ganz im stillen
...und ihre Gesetze entwickeln."
Die ältere Freundin fand Bettina zu wild, zu frei
und versuchte, sie auch einen wahren Gottesglauben, den sie im Kloster lebte,
festzulegen.
Für Bettina aber war das Erleben, was für andere
scheinbar fremd war, zu einer Sehnsucht geworden, ihr Eigenes zum Ausdruck zu
bringen, es in ein Erklärungssystem zu manifestieren, in eine eigene Religion,
oder später auch in eigenes Philosophieren darüber, wie sie die Welt sieht,
was sie dann auch getan hat.
Es ging den Frühromantikerinnen darum, keine herkömmliche
Erklärung einfach zu akzeptieren, sondern in sich selber etwas zu erzeugen, mit
dem aus sich selbst heraus die Weltinterpretation neu geschehen kann.
Die Briefe um die Bemühungen dieser Persönlichkeitsentwicklung
für eine eigene Weltsicht, in der das, was man innerlich erlebt, genauso
wesentlich genommen wird wie der Vernunftsinn, der dieses Erleben kommentiert,
hat mich mir in meinem kindlichen Fragen näher gebracht.
Und für unser Tagungsthema von den Grenzen unserer
Zeit und in unserer Zeit finden wir hier Beispiele, wie die eigene Zeit
transzendiert wurde. Dabei galt die vergangenheit und das sich erinnern darin
aufgehoben in die Gegenwartszeit. Bettina schreibt in einem Brief an Günderode:
"Was kümmert uns Vergangenheit, wäre sie nicht Organ unserer Zukunft.
Reflex des Werdens in uns, dem der Geist in Träumen die Lockungen des eigenen
Ideals vorspiegelt." Daraus entstand nicht nur eine eigenwillige Sicht der
Geschichtsphilosophie, sondern auch eine eigenwillige der eigenen Biographie.
Das Kind ist im Erwachsenen enthalten, auch die Aufgaben, das Ideal des
Erwachsenen. Die normalen Trennungen zwischen Vergangenheit und Zukunft,
zwischen Kindsein und Erwachsensein wurden nicht mehr akzeptiert.
Hier fanden Grenzüberschreitungen im
erkenntnispraktischen- und erkenntnistheoretischen Sinne statt, die wir noch
wenig gewürdigt haben.
Jetzt, wo es neu darum geht, begrenzende Denkformen
aufzulösen und sich erkennend zu erweitern, können die frühromantischen
Experimente vielleicht aus dem Kitschklischee herausgenommen werden, in dem sie
noch zumeist gesehen werden.
Es gibt ja auch wieder junge Malerinnen und Maler,
die Bilder romantischer Art malen, Bilder, die eine Sehnsucht nach einem
entgrenzteren und dennoch individuelleren Menschsein auszudrücken versuchen.
Mit diesen Ausführungen zu den Romantikerinnen baue
ich den Zugang aus zu dem, was ich inzwischen meine Leibphilosophie nenne.
Damit wir gar nicht erst ins Fliegenglas geraten nahm
ich ernst, daß über Vernunftsprache allein wir Menschen in der Welt noch nicht
zu einem harmonischeren Leben miteinander und nach außen hin gelangen, obwohl
hier schon Einiges möglich ist.
Nach Tschernobyl hatte ich wieder so ein kindliches
Gespür dafür, einfach mal es anders zu sehen.
Damals gab es viele Aufrufe zur Vernunft, auch in den
Zeitungen, denn die Menschen, hauptsächlich Frauen, kauften keinen Salat mehr,
der Spargel verfaulte und die Milch versauerte. Wir wollten keine verstrahlte
Nahrung essen, wir wollten gesunde Nahrung haben. Die Aufrufe zur Vernunft, auch
von Wissenschaftlern und sogar Philosophen der Berliner Freien Universität, an
der ich damals promovierte, intendierten, daß wir nicht panisch reagieren
sollten. In der freien Natur gäbe es auch radioaktive Strahlung, sie gehört in
gewisser Weise mit zur Natur. Das Risiko der Wissenschaft müßten wir eben
tragen, wenn mal was schief geht, dafür hätten wir auch den technischen
Fortschritt und Wohlstand. Wir sollten vernünftig sein und einkaufen und wieder
ein normales Leben führen.
Der Aufruf zur Vernunft bedeutete, daß wir die Ängste
um unsere Gesundheit verdrängen sollten, daß allein schon der Wunsch, gesund
zu essen, unvernünftig und Fortschrittsfeindlich sein kann.
Daß wir normal gesund leben möchten, dafür gab es
keine Rechtfertigungen in den Philosophien. Es ging dort meistens um heroische
Geisteszusammenhänge, jenseits von körperlichen Belangen. Dass wir essen müssen
wird als lästige Nebenerscheinung des minderwertigeren körperlichen Lebens
angesehen.
Daß wir an diesem körperlichen Leben hängen, daß
wir gern gern Risiken eingehen und mit dem Tode in den Kampf gehen, dafür gibt
es in der Philosophie keine Legitimationen. Die meisten Philosophien sind Begründungen
für irgendwelche gefundenen und behaupteten Wahrheiten, aber es gab keine guten
Begründungen dafür, gesund leben zu wollen.
Ich sah diese ganze Interpretation mit dem
Vernunftglauben aufeinmal mit anderen Augen.
Hindurch schimmerten andere Hintergründe, als ich
bis dahin annahm. Ich schrieb einen Aufsatz mit folgendem Titel: "Daß wir
so sehr am Leben hängen, ist für die Herrschenden ein Problem."
Ich bin damals aus der Uni ausgestiegen um freischaffende Philosophin zu
sein, um an meinen Themen arbeiten zu können.
Nietzsche hatte in solchen Fällen die Methode drauf,
einfach das umzuwerten, was bisher als wertvoll galt und das, was diskriminiert
wurde, hoch zu werten. Was passiert dann?
Was passiert, wenn ich unser leibliches endliches
Leben auf Erden höher werte als alle Geisteswirklichkeiten samt
Wissenschaftsentwicklungen und menschheitliche Fortschritte. Was passiert, wenn
ich das einzelne menschliche leben für voll gerechtfertigt nehme,
unhinterfragbar?
Mit Nietzsches Methode hätte ich aber nur das
Gegenteil von Vorher hoch gewertet, also jetzt nicht den Geist, sondern den Körper,
jetzt nicht den technischen Fortschritt, sondern ich wäre zur Naturschwärmerin
geworden. Nein, dadurch bleiben wir im Dualismus des entweder oder verhaftet.
Ich mußte die Vernunftinstanz ersetzen, ohne sie
aber zu verwerfen.
Warum wollen wir nicht sterben? Warum wollen wir gern
leben? Was ist das Schöne am Leben? Wir erleben Gefühle, lachen, freuen uns,
wir erkennen Zusammenhänge, die uns lebenstüchtiger machen, was uns wieder
freut, wenn etwas gelingt, wir tun etwas gern, wo unser Körper sich gut fühlt.
Wir sind leibhaftige Wesen und wollen das gern sein, wenn wir Gesundheit
fordern.
Ich wußte aber, daß es nicht reicht, nur den Körper
jetzt als das Wertvollste philosophisch zu behaupten, so wie es La Mettrie in
der französischen Aufklärung tat oder auch wie Hume den Erkenntnisprozeß
beschrieb. Damit bleibe ich im dualistischen Denken stecken und stosse an die
Grenzen dieser Grammatik.
Ich brauchte einen dritten Weg, etwas, was diese
Begriffsgrenzen sprengte und es dennoch nicht zerstörte. Einen integrativeren
Begriff vom Denken, in dem das Fühlen, Empfinden und Rechnen und Analysieren
keine Widersprüche sind, so wie auch tatsächlich unser Gehirn sehr plastizibel
ist und mehrere Regionen zugleich tätig sind, wenn wir den Eindruck haben, wir
tun etwas bestimmtes.
Ich wollte ja nicht nur unser körperliches Leben
philosophisch und moralisch rechtfertigen, sondern auch eine neue Art und Weise,
körpernäher zu denken, zu sprechen, zu erfahren und zu forschen.
Wir haben in der mittelhochdeutschen Sprache ein
Wort, daß keine feste innere Instanz meint, die alles reguliert und beherrschen
soll, die das Ich oder die Vernunft sein soll und dennoch den inneren Menschen
meint. Im Nibelungenlied ersetzt dieses Wort manchmal das Wort "Ich".
Es heißt dort "min lip". Wir übersetzen "Mein Leib", oder
"ich".
Min Lip geht in ein anderes Zimmer, min lip träumt,
min lip ist auch din lip.
Als Siegfried den Hof seiner Eltern verläßt, um
Kriemhild zu bewerben, stehen seine Eltern vor dem Tor und winken ihm nach.
Es heißt dort: "Ihr bider lip trauerte."
Hochdeutscch übersetzt: Sie trauerten.
Es müßte aber heißen, Ihr beider Leib trauerte.
Dadurch dass zwei Menschen dieselbe Empfindung haben,
verschmelzen sie zu einer Einheit, einem Leib. Sie entgrenzen sich und verändern
ihren Seinszustand.
Da ist etwas in der mittelhochdeutschen Sprache
benannt, was schwierig zu benennen ist, was ins jenseits unser Zeit gehört. Das
Individuum löst sich auf und wird mit anderen zu einem Leib, zu einer Einheit.
Es vermischt sich und fühlt sich mit den anderen eins und ist dennoch sich
selbst dabei.
Novalis ging ja in seinem schon erwähnten Gedicht
soweit zu glauben, wenn wir unsere Sensibiltät noch vermehren würden, dann wären
wir eines Tages alle ein Leib. Dann wäre es auch unmöglich, das Leiden eines
anderen Menschen hinzunehmen, weil wir es wie eigenes Leiden empfinden würden.
Der Leibsinn kann die physischen Körpergrenzen übersteigen und woanders von
innen heraus präsent sein.
Nehmen wir ein trivialeres Beispiel: Fußball. Ein Fußballer
schießt über viele Meter ein Tor. Er trifft genau. Seine Fußspitze ist
sozusagen mit dem ganzen Fußballfeld verbunden und tariert genau den Torpunkt
aus, betreibt Fernlenkung. Beim Golfspielen sind die Distanzen noch größer und
der Leibraum muß sich enorm erweitern können, um die Grünfläche weit hinten
möglichst nah am Loch zu treffen. Der ganze Körper wird beim Schwingen zu
einem konzentrierten Leibsinn.
Diese Innenraumerweiterung ist schwer sprachlich zu
erklären, aber wer Golf spielt oder Fußball, weiß, was ich meine, obwohl darüber
die ganz richtigen Worte fehlen.
Wenn wir leibsinniger wären, dann würden wir mehr
von der Welt spüren, auch mehr von uns selber und anderen Menschen und mit
unserem unsprachlichen Wissen besser lernen können zu agieren.
Denn das ist auch Wissen. Man kann es nur nicht
leicht ins Sprachbewußtsein bringen.
Wir wissen aus der neueren Gehirnforschung, daß
unser sogenanntes Bewußtsein, also das analytische Sprachbewußtsein, nur etwa
1 Millionstel Teil von den Informationen wahrnimmt, die wir insgesamt pro
Sekunde verarbeiten. Es ist wie ein kleines Spotligth, das gerade mal einen
Millionstel Teil von dem beleuchten kann, was insgesamt in einer Sekunde unser
gesamtes Lebenssystem das wir sind verarbeitet. Es ist wichtig für uns, aber es
ist nur ein kleiner Teil vom Gesamtwissen, was irgendwie in uns ständig ist.
Darum brauchen wir die Schulung von noch mehr inneren
Sinnen, um jenseits der Fliegengläser die Welt und uns darin zu verstehen.
Einen schönen Überblick über diese Bewußtseinsgrenze,
mit der wir zu tun haben heißt: "Spüre die Welt", Die Wissenschaft
des Bewußtsein von Tor Norretranders. Ich bin darauf gekommen, als ich für
meine nach Tschernobyl entstandene Philosophie forschte, die ich damals
Leibphilosophie genannt habe. Inzwischen gibt es auch andere Philosophierende,
die ihre philosophische Arbeit Leibphilosophie nennen. Der eher nur phänomenologische
Zweig davon ist allerdings schon bei Husserl grundgelegt und findet in der neuen
Phänomenologie von Hermann Schmidts aus Kiel eine Fortsetzung.
Meine leibphilosophische Arbeit ist aber nicht in
dieser eher philosophiewissenschaftlichen Folge entstanden, sondern an den
politischen Fragen, die ich in dieser Welt vor allem zur Zeit des Reaktorunfalls
von Tschernobyl erlebt habe. Ich will nicht nur innere Bewußtseinszustände
beschreiben, sondern nach neuen suchen und Weltsichten damit hinterfragen und
auch neu kreiieren.
Mein Buch "Sofias Leib", der Körper als
Quelle der Weisheit, ist ein erstes Resultat dieser philosophischen Suche. Die
ganze Leibphilosophie ist so für mich ein Forschungsweg geworden, dessen Ende
ich nicht absehen kann.
Es geht um die Entdeckung und Formulierung von neuen
menschlichen Intelligenzformen, also keine künstliche Intelligenz, sondern
unsere eigene müssen wir weiter entwickeln, wenn wir möglichst zahlreich möglichst
lange gesund auf Erden leben wollen.
Die Philosophen Adorno und Horkheimer haben hierzu
gesagt, daß wir keine Chance mehr dazu hätten, nach all den Brutalitäten, die
wir täglich erleben, auch in Kriegen, daß wir dadurch so vergröbert werden
und desensibilisiert, daß es kein Jenseits dieser Welt mehr geben kann. Sie
schreiben in der Dialektik der Aufklärung: "Wir können unseren Körper
noch so sehr ertüchtigen, wir werden den Leib nicht mehr erreichen."
Ich habe nun Leibexperimente entwickelt, in denen wir
die leibliche Dimension unseres Erfahrens genauer forschend wahrnehmen können.
Vor allem gibt es Möglichkeiten, durch Sprache Leibsinniges zu erzeugen. So
eine Grundübung mache ich in meinem Workshop am heutigen Nachmittag und wir können
sehen, was Sie als transanalytische Therapeutinnen und Therapeuten damit
anfangen können. Dieser Austausch interessiert mich sehr.
Die Psychologie war ja bis vor hundert Jahren, also
bis zu Freud, über 2000 Jahre lang Teil der Philosophie gewesen, und ich finde
es sehr spannend, wenn es da Austausch jenseits der akademischen und berufsständischen
Disziplingrenzen geben kann. Auch hier brauchen wir ein neues Jenseits unserer
Zeit.